Berg, Alban

Violinkonzert

"Dem Andenken eines Engels", Partitur, Faksimile

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Laaber, Laaber 2011
erschienen in: das Orchester 12/2011 , Seite 73

Es ist ein erhebendes Gefühl, diese Partitur in den Händen zu halten. Nicht allein deswegen, weil es eine in vielerlei Hinsicht bedeutsame Komposition ist, ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts und neben dem Wozzeck das meistgespielte und bekannteste Opus von Alban Berg. Auch nicht nur, weil es ein anrührendes Dokument ist, das Bergs Nöte und Ahnungen ebenso bezeugt wie sein Leid und sein Weh über den Tod von Manon Gropius, der achtzehnjährigen Tochter Alma Mahler-Werfels aus ihrer Ehe mit dem Architekten Walter Gropius. Sondern vor allem, weil die Begegnung mit dem Autograf dieses Werks, mit der Handschrift des Komponisten, große Ehrfurcht vor einem Denkmal weckt und weil sich das Notenbild selbst als kalligrafisches Kunstwerk zeigt, das Klanglichkeit sichtbar macht.
Den Auftrag für das Konzert gab der amerikanische Geiger Louis Krasner, der es unter Leitung von Hermann Scherchen am 19. April 1936 in Barcelona uraufgeführt hat – Berg komponierte es zwischen Februar und Juli 1935, seinem Todesjahr. „Die kurze Entstehungszeit drückt sich insofern in der Partitur aus, als sie, alles andere als simpel, doch die unkomplizierteste, klarste, ‚eingängigste‘ ist, die Berg geschrieben hat“, so der Musikwissenschaftler Volker Scherliess. Die zwei Teile des Werks, die sich in je zwei Abschnitte untergliedern, sind von deutlichen, fassbaren Beziehungen zwischen Großform und charakteristischem Detail getragen. Und Struktur wie Sprache der Musik erhalten durch die Vermittlung von Dodekafonie und Tonalität, von Konstruktion und Zitat ihr Gepräge. Anmutig und zart, beschwingt gar, zeichnet die Musik im ersten Teil ein Porträt des bezaubernden jungen Mädchens; mit qualvollem, verzweifeltem Ausdruck schließt der zweite an, ein Sinnbild von Todeskampf, aus dem die Geigenmelodie und danach der Choral im Bach’schen Originalsatz herausgeleitet werden, bis am Schluss Trauer und schmerzvolle Erinnerung zusammenfinden.
Das Requiem für Manon Gropius wurde auch Bergs eigenes Requiem: Sein Werk hat er nie gehört, die Druckfassung nie gesehen. Das Autograf der Partitur befindet sich in der Library of Congress Washington; den Druck als Band 22 der großartigen Edition „Meisterwerke der Musik im Faksimile“ hat der Berg-Forscher Douglas Jarman herausgegeben und kommentiert. Er gibt Auskunft über Werkentstehung und Werkgestalt und verweist auf Irrtümer und Fehler, Abweichungen und Korrekturen bei Handschrift und erster Druckfassung. Nachdrücklich hebt er die Sorgfalt hervor, mit der Berg Noten geschrieben und Anweisungen notiert hat. Und liebevoll weist er auf jene Stellen hin, an denen das Klangbild besonders plastisch zutage tritt – die eleganten Bögen der „schwebenden“ Einleitung, das Ansammeln und Auseinanderlaufen von Solo und Streichern und die wie ein Lichtstrahl aufsteigende Klangvision am Ende des Werks. Und wenn Adorno an Bergs Hang zu visueller Poesie und Klarheit beim Notenschreiben erinnert, so erhält der Betrachter dieser Partitur nun selbst einen Eindruck davon. Einen schönen und bewegenden.
Eberhard Kneipel