Rostal, Max

Violin-Schlüssel-Erlebnisse

Erinnerungen. Mit einem autobiografischen Text von Leo Rostal

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Ries & Erler, Berlin 2007
erschienen in: das Orchester 03/2008 , Seite 56

Der Name Max Rostal ist von der Geschichte des Violinspiels im 20. Jahrhundert nicht zu trennen. Seit etwa 1500 wird Geige gespielt, aber erst nach 1900 wurde mit der elektronischen Aufzeichnung und Verbreitung von Musik die vorher nur in Einzelfällen erreichte technische und künstlerische Perfektion zum allgemeinen Maßstab. An dieser Entwicklung, aber auch am Entstehen einer streicherpädagogischen Breitenarbeit von der Früherziehung bis zum nationalen und internationalen Wettbewerbswesen hat Max Rostal wesentlichen Anteil, beginnend mit seiner Lehrtätigkeit im Berlin der zwanziger Jahre und endend mit Meisterkursen kurz vor seinem Tod 1991.
Die Erinnerungen, denen er selbst den Titel Violin-Schlüssel-Erlebnisse gab, enden in der Zeit seiner Londoner Sonatenabende und Schallplattenaufnahmen mit dem jung verstorbenen Pianisten Franz Osborn in den vierziger Jahren. Die Zeit seiner Rückkehr auf den Kontinent nach Bern – von dort aus baute er mit seiner Assistentin Berta Volmer auch die Meisterklasse an der Kölner Musikhochschule auf – ist also in den Erinnerungen nicht enthalten. Das mag man einerseits bedauern, andererseits übte die Erinnerung an die frühen und mittleren Jahre auf Max Rostal eine besondere Anziehungskraft aus. Mit den liebevollen Schilderungen aus seiner Geburtsstadt Teschen und der anschließenden Wiener Zeit von 1913 bis 1920 bringt Rostal dem Leser weit über das Biografische hinaus eine versunkene Welt nahe – etwa die Privatschule der „Frau Doktor“ Eugenie Schwarzwald, zu deren Lehrer- und Schülerkreis Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg, Rudolf Serkin, Carl Zuckmayer und viele andere Künstler und Schriftsteller zählten. Rostal hat oft bedauert, dass ihm eine Kindheit versagt blieb, aber durch das vom Vater geforderte tägliche sechs- bis achtstündige Üben hat er offenbar das Stadium des unbewussten und nachahmenden Spiels zugunsten einer selbstkritischen Objektivität übersprungen. Wenn es ihm im Rückblick „unwahrscheinlich vorkommt“, dass er mit zehn Jahren an einem Abend drei Violinkonzerte gespielt habe, unterschätzt er wohl seine damaligen Leistungen.
Eine entscheidende Veränderung – weniger in Max Rostals Fähigkeiten als in seinem Denken – brachte 1920 mit dem Umzug der Familie nach Berlin die Begegnung mit Carl Flesch. Dieser erkannte sehr bald, dass er hinsichtlich der intellektuellen Durchdringung der technischen und künstlerischen Gesetzmäßigkeiten des Violinspiels einen Gleichgesinnten vor sich hatte. Rostal, zunächst sein Schüler, wurde nach einem Intermezzo als Konzertmeister in Oslo 1928 Fleschs Assistent an der Berliner Musikhochschule und erhielt am 1. Oktober 1931 einen eigenen Vertrag als Lehrer. Weitere wichtige Details enthalten im vorliegenden Band die ausführlichen Anmerkungen der Herausgeber Dietmar Schenk und Antje Kalcher.
Eine charmantes Gegenstück zu Max Rostals „Schlüssel-Erlebnissen“ bilden die ebenfalls sorgfältig kommentierten Aufzeichnungen des älteren Bruders, des 1939 in letzter Minute nach Amerika emigrierten Cellisten Leo Rostal. Viele Bilder und Faksimiles tragen zur Anschaulichkeit und zum hohen Informationswert des Bandes bei.
Reinhard Seiffert