Say, Fazil

Violin Concerto “1001 Nights in the Harem”

Klavierauszug

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 05/2010 , Seite 67

Fazil Say ist gewissermaßen ein Paradiesvogel des Konzert- und Musikbetriebs: ein Multi-Talent von hohen Gnaden, pianistischer Superstar extrovertiert-spontaner Natur, durchaus mit Neigung zum Beschreiten ausgefallener Wege bis hin zur Exzentrizität (siehe die spektakuläre Aufnahme seiner eigenen Transkription von Strawinskys Sacre du Printemps für zwei Klaviere, gespielt von Say & Say im Playbackverfahren), daneben Kammermusiker und Komponist mit ausgeprägtem Faible für die Kunst der Improvisation, dessen Werke sich einer stilistischen, ja ästhetischen Klassifizierung zu entziehen scheinen. Ein veritabler musikalischer Tausendsassa, tummelt sich Say auf den verschiedensten Spielwiesen, schreibt Jazzkompositionen, Konzerte, Kammer-, auch Filmmusik.
Das Violinkonzert 1001 Nights in the Harem komponierte er 2007 und schrieb es seiner Kammermusikpartnerin Patricia Kopatchinskaja geradezu „auf den Leib“. Im Vorwort der Notenausgabe äußert er sich selbst zum Werk: „Mein Violinkonzert besteht aus vier Sätzen, die ihre Anregung lose aus Scheherazades Erzählungen in den Märchen von tausendundeiner Nacht beziehen. Der erste Satz spielt sich im Innern eines Harems ab. Vorgestellt werden verschiedene Harems-Frauen in ihrer je unterschiedlichen Persönlichkeit. Der zweite Satz ist ein einziges Tanzvergnügen – sozusagen eine Party-Nacht mit unterschiedlichsten Arten von Tanzmusik. Der dritte Satz … besteht zu einem wesentlichen Teil aus Variationen über ein berühmtes türkisches Lied. Der vierte Satz beginnt zwar dramatisch, doch im weiteren Verlauf entwickelt er sich immer mehr zu einem Nachklang auf das ganze Geschehen, und so endet das Werk mit sinnlich orientalischen Klängen… Der orientalischen Klangwelt entsprechend ist die Orchesterbesetzung mit mehreren türkischen Schlaginstrumenten wie Kudüm oder Bendir, aber auch mit Glockenspiel, Marimba und Vibrafon, Celesta und Harfe bestückt.“
Eine geradezu bengalische Mixtur hat Say hier zusammengebraut: Improvisatorische, klangsinnliche und motorische Elemente, orientalisch-folkloristisches Klang-Kolorit, jazz- und pop-inspirierte Floskeln, Filmmusik, Gefühliges an der Grenze zum Hollywood-Kitsch (3. Satz!) verschmelzen zu einem vitalen Ganzen, farbig und zum Bersten temperamentvoll. Der Geigensolopart ist virtuos, aber keineswegs besonders schwierig gehalten und bietet dem Solisten wirkungsvoll Gelegenheit zu zeigen, was er alles an Farben und Klangeffekten „draufhat“, eine, wie man gemeinhin sagt, dankbare Aufgabe also.
Bleibt die Frage nach der ästhetischen Wertung dieser Musik, die sich in ihrer direkten sinnlichen Äußerung, ihrer auf das rhetorische Element fixierten, grelle Effekte gelegentlich bis an die Grenze des Kruden in den Fokus rückenden, oft drastischen Klangsprache immer wieder geflissentlich auf der Grenzlinie zwischen E- und U-Bereich zu bewegen scheint. Immerhin: Eine mitreißende Qualität kann man dem Konzert nicht absprechen, und das ist mir allemal lieber als die Esoterik mancher anderen sich anspruchsvoll experimentell gebenden, in Wahrheit aber längst epigonenhaft die Avantgarde-Schemata vergangener Zeiten aufwärmenden und ansonsten gottsterbenslangweiligen Klangschöpfungen unserer Tage.
Herwig Zack