Björnstad, Ketil

Vindings Spiel

Roman

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Insel, Frankfurt am Main 2006
erschienen in: das Orchester 09/2006 , Seite 84

Dreißig Bücher in den vergangenen dreißig Jahren: Im Durchschnitt ein Buch pro Jahr veröffentlicht der norwegische Schriftsteller, Pianist und Komponist Ketil Bjørnstad! Dieses vom Umfang her wahrhaft gigantische Werk umfasst in erster Linie Romane, aber auch einige Lyrik-Bände und Sachbücher sowie ein Schauspiel. Doch damit nicht genug: Neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller ist Bjørnstad auch als Jazzpianist tätig und hat es auch hier bereits auf eine Diskografie von zwanzig Alben gebracht – das jüngste Album Floating erschien Anfang 2006 in klassischer Triobesetzung (Klavier, Schlagzeug, Bass).
Vindings Spiel belegt, dass Bjørnstad wahrlich kein Anfänger ist. Der Autor versteht es, Spannung zu erzeugen und seine Leserschaft bei der Stange zu halten. Aksel Vinding ist ein junger Pianist, der die Schule abbricht, um sich ganz seiner musikalischen Leidenschaft zu widmen. Wie besessen arbeitet er auf die großen Nachwuchswettbewerbe hin, um dort entdeckt zu werden und eine glänzende Karriere zu starten. Man sagt, er sei der Beste; doch da gibt es noch die geheimnisvolle Anja Skoog, die plötzlich zu Aksels Konkurrentin und seiner ersten großen Liebe wird…
Bjørnstad hat seinen Roman im Oslo des Jahres 1968 angesiedelt. Damit sind autobiografische Deutungen möglich: Der Autor selbst war damals 16 Jahre alt, die Hauptfigur des Romans, Aksel Vinding, dürfte etwa dasselbe Alter haben. Eine solch autobiografische Sichtweise liegt vor allem deshalb nahe, weil Bjørnstad ansonsten keinerlei Bezug zur „magischen“ Jahreszahl 1968 herstellt – eine Zeit, die gerade in Norwegen von gewaltigen gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt war, die die deutschen Unruhen der Studentenbewegung an Radikalität noch übertrafen. Allenfalls könnte man das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die erhitzte gesellschaftspolitische Situation als Zeichen der völligen Isolation der musikfanatischen Jugendlichen deuten. Aksel Vinding und sein musikalisches Umfeld haben jeden Kontakt zur Außenwelt verloren, ihr Denken kreist ausschließlich um Musik und um den nächsten Wettbewerb, den es zu gewinnen gilt.
Quasi durch die Hintertür wirft Bjørnstad einen kritischen Blick auf die „Hochleistungsmusik“ und ihre Abgründe. Musik als verbindende Sprache, als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit, Musik als Medium, das den sozialen, ganzheitlichen Menschen fördert? Bjørnstads Pianisten sind Autisten, abgeschnitten vom Leben der Anderen, sie sind Musik-Junkies, die auf den nächsten Wettbewerb hinfiebern wie Süchtige auf den nächsten Schuss.
„Eine Liebeserklärung an die Musik“, wie es im Text auf dem Buchrücken heißt? Eher zeigt Bjørnstad uns die Kehrseite der Medaille, den Verzicht, den es bedeutet, wenn man sein Leben dem Virtuosentum widmet – bis hin zum körperlichen und psychischen Zusammenbruch. Nicht zuletzt handelt dieser Roman von familiärem und pädagogischem Missbrauch, von allzu engen Lehrer-Schüler-Beziehungen, von Abhängigkeiten und Unterwerfung. Ein spannendes, ein bedrückendes Buch, das uns vor Augen führt, dass die Welt der Musik nicht nur das Schöne, Gute und Wahre repräsentiert, sondern auch das Dunkle und Abgründige in sich birgt.
Rüdiger Behschnitt