Negwer, Manuel

Villa-Lobos

Der Aufbruch der brasilianischen Musik, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Schott, Mainz 2008
erschienen in: das Orchester 09/2009 , Seite 65

Vor lauter Händel, Haydn und Mendelssohn werden in diesem Jahr gerne auch einmal ganz andere Jubel- und Gedenktage außer Acht gelassen. Zu vergessen, zu marginal, zu abseitig, zu ökonomisch uninteressant erscheinen im hastigen Musikbetrieb etwa jene Komponisten des 20. Jahrhunderts, die vor genau 50 Jahren starben, auf deren Leben und Schaffen sich aber auch ein genauerer Blick fraglos lohnen würde – wie etwa bei George Antheil, Ernest Bloch, Bohuslav Martinu, Joseph Matthias Hauer und eben auch Heitor Villa-Lobos (1887-1959). Denn dieser fraglos bedeutendste unter den brasilianischen Komponisten ist bis heute allenfalls mit einigen seiner Bachianas Brasileiras in das Herz der Liebhaber vorgedrungen. Hingegen sind seine Sinfonien (12), seine Streichquartette (17) und seine vielfach auf die Musik Südamerikas rekurrierenden Werke (etwa die Choros) nur in den seltensten Fällen einmal von der Partitur über die CD in den Konzertsaal gelangt – leider.
Mehr als drei Jahrzehnte nach der ersten deutschsprachigen Biografie von Lisa M. Peppercorn, die 1972 in Zürich erschien und schon lange vergriffen ist, unternimmt nun Manuel Negwer einen neuen Versuch, das bewegte und von vielen Anekdoten durchzogene Leben des Komponisten neu zu fassen. Zahlreiche Quellen wurden inzwischen erschlossen, auch hat sich der Blick auf Villa-Lobos’ musikalische Quellen verändert. Zudem kann Negwer auf eigene Erfahrungen mit der brasilianischen Kultur zurückgreifen. Doch gute Voraussetzungen und gutwilliger Enthusiasmus reichen noch lange nicht für eine fundierte Darstellung aus – und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Die Jahre der Kindheit und Jugend etwa erzählt Negwer mit einer fast naiv anmutenden atmosphärischen Vertrautheit („So holte sich der kleine Heitor dort nicht nur regelmäßig seine Süßigkeiten ab, sondern spielte auch zwischen Mehlsäcken und Weinfässern mit seinen Geschwistern Versteck“, S. 12) und den knappen, vielfach kaum über die notwendigsten Rahmendaten hinausgehenden Erläuterungen zu einzelnen Kompositionen fehlt es oftmals an interpretatorischer Zuspitzung und Präzision. So gilt die 5. Sinfonie einmal „bis heute als verschollen, wurde aber vermutlich nie geschrieben“ (S. 73), ein anderes Mal scheint sie lediglich „verloren“ (S. 85); schließlich wurde die Partitur „niemals gefunden […]. Alles deutet darauf hin, dass Villa-Lobos seine ,Fünfte‘ nie komponiert hat“ (S. 89).
Doch nicht allein solch redundante Passagen hinterlassen beim Lesen den Eindruck eines unzuverlässigen Lektorats, sondern mehr noch einige grau und unterstrichen gedruckte Substantive (S. 22 und 59) – die im Fall der Ophikleïde auf eine in dieser Deutlichkeit vermeidbare „Wikifizierung“ verweisen. Erhellend sind hingegen die knappen Kommentare zu den im Literaturverzeichnis genannten Arbeiten, hilfreich das abschließende Register. Herausragenden dokumentarischen Werk besitzt die dem Buch beigefügte CD: Hier ist Villa-Lobos als Pianist (Aufnahmen des Reichsrundfunks Berlin, 1936) und auf der Gitarre (Rio de Janeiro, 1940er Jahre) zu hören.
Michael Kube