Telemann, Georg Philipp

VI Ouvertures à 4 ou 6

Erstausgabe, Partitur/Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: ortus, Beeskow 2010
erschienen in: das Orchester 10/2010 , Seite 70

Noch heutzutage mag es manchem Musikliebhaber kaum einleuchten, dass nicht Bach, sondern Georg Philipp Telemann von der musikalischen Fachwelt des 18. Jahrhunderts als bedeutendster und einflussreichster deutscher Komponist der Zeit gefeiert wurde. Die verzerrten Urteile der Spittas, Riemanns und anderer Bach-Apologeten der Romantik führten zu einer Langzeit-Diffamierung, die bis heute nachwirkt. Mögen sich zu Telemanns Lebzeiten Subskribenten aus ganz Europa um seine Werke gerissen haben, so war man im 19. Jahrhundert überzeugt, es hier lediglich mit einem Produzenten von oberflächlicher Massenware zu tun zu haben.
Großen Anteil an der überfälligen Neubewertung Telemanns der vergangenen Jahrzehnte hatten und haben die Vertreter der historischen Aufführungspraxis, nachdem einzelne Musikologen und Publizisten – Max Schneider, Romain Rolland, Max Seiffert – bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf Telemanns unerschöpfliche Fantasie, seinen Erfindungsreichtum und nicht zuletzt dezidierte Internationalität als besondere Qualitätsmerkmale seiner Musik verwiesen haben. Telemann war der Vertreter des „Vermischten Geschmacks“, und in keiner anderen Gattung konnte sich seine Begabung, kontrastierende Charaktere zu einem Werkganzen zusammenzufassen, so ausleben wie in der Form der Ouvertürensuite, bestehend aus einer elaborierten dreiteiligen Ouvertüre in französischem Stil und einer Folge von Tanzsätzen oder „Pièces caracteristiques“, deren Bandbreite keine Grenze kannte.
Im März 1736 rief der Komponist einmal mehr zur Subskription auf: Angekündigt wurden „6 Ouverturen, mit ihren umfänglichen Suiten. Drei davon bestehen aus 2 Violinen, Bratsche und Fundament. Zu den drei übrigen aber kommen annoch 2 Waldhörner, die jedoch auch wegbleiben können“. Lange Zeit galt dieses Werk als verschollen (eine Studie aus dem Jahr 1969 spricht von Kriegsverlust), doch wissenschaftlicher Spürsinn machte es möglich, das mutmaßlich einzig überlebende Stimmensatz-Exemplar der Werke in der Russischen Staatsbibliothek ausfindig zu machen. Das Ergebnis des Fischzugs halten wir hier in Händen und sind geneigt, anlässlich der vorliegenden Ausgabe von einem musikalischen Schatz zu sprechen: sechs vor Originalität berstende Werke, ediert nach strengen Urtext-Maßgaben. Wir begegnen nicht weniger als 18 verschie-denen Tanzsatztypen, darüber hinaus Charakterstudien wie „La douceur“, „Les gladiateurs“ oder „Les querrelleurs“ (die Zankenden) und sogar einer Anverwandlung des Modetanzes Mourky.
Daher lautet der Appell an alle Barockensembles und Kammerorchester: zugreifen! Der vom Komponisten erteilten Erlaubnis, die Suiten in F-Dur, Es-Dur und D-Dur wahlweise ohne Hörner zu spielen, sollte man indes nur in Zeiten größter Geldknappheit nachkommen. Die originellen Hornpartien bilden das gesamte orchestrale Spektrum dieses Instruments ab, vom Colla-parte-Spiel über Akkordfüllung bis hin zu obligater Melodieführung, und tragen wesentlich zur Klanggestalt der Suiten bei.
Gerhard Anders