Rachmaninov, Sergei

Vespers op. 37

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Hänssler classic 93.112
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 86

Es ist schon etwas Seltsames um dieses knapp einstündige op. 37 Rachmaninows, das auf dem deutschen Markt, ganz nach Geschmack, mal als Das große Abend- und Morgenlob, mal als Ganznächtliche Vigil und mal schlicht als Vesper daherkommt. Kann man nämlich normalerweise bei ostslawischer Kirchenmusik seine Fonoanlage darauf verwetten, dass die einfühlsamsten und musikalischsten Einspielungen von Solisten und Chören slawischer Herkunft intoniert werden (hier vor allem russische und bulgarische, gelegentlich auch polnische Interpretationen), so ist es bei diesem Rachmaninow-Werk genau umgekehrt: Ob der (sonst exzellente) Petersburger Kammerchor, der Bulgarische Nationalchor oder der Ukrainische Akademische Nationalchor – hier schwächeln sie alle, und eine alte Vinyl-Einspielung aus den 60er oder 70er Jahren, deren Urheber dem Gedächtnis zurecht entfallen sind, war so grottenschlecht, dass man geneigt war, dem Chor Sabotage zu unterstellen!
Ob es daran liegt, dass die auf ostslawische Kirchenmusiktraditionen eingeschworenen Chöre des Ostens mit der Ganznächtlichen Vigil deshalb nicht so recht warm werden, weil der Komponist seiner Musik vor allem in der Satztechnik einen durchaus eigenen und eigenwilligen Stempel aufdrückte, lassen wir dahingestellt sein. Es ist ja auch schon von einiger Signifikanz, dass dieses Werk kaum einmal im Rahmen kirchlicher Handlungen zur Aufführung gelangt, sondern weitgehend auf die Konzertsäle beschränkt bleibt.
Auf jeden Fall sind die bisherigen westlichen Interpretationen des Opus 37 den östlichen in mancherlei Hinsicht um mehr als Nasenlängen voraus – egal, ob es sich um die Corydon Singers, den King’s College Choir, um den Berliner oder um den Schwedischen Rundfunkchor handelt.
So auch die vorliegende Aufnahme mit dem SWR Vokalensemble Stuttgart, das Rachmaninows polyfone Farbenpracht mit einer glasklaren, sicheren Intonation erst so richtig zum Leuchten und Funkeln bringt. Beeindruckend die tiefe Stimmgewalt der in Deutschland nicht eben üppig florierenden Oktavisten (besonders schön herauszuhören im „Vzbrannoj voevode“), kaum weniger beeindruckend aber auch die kristallenen Frauenstimmen (besonders im „Blagoslovij“ und im „Bogorodice Devo“). Dass hier ein aufeinander eingeschworenes Ensemble mit „blinder“ Homogenität agiert, ist von der ersten bis zur letzten Note ohrenfällig. Wenn es überhaupt etwas einzuwenden gibt, dann ist es die vielleicht allzu „karajaneske“ Stromlinienform des Klangs, die doch etwas zu Lasten des kontemplativen Moments geht.
Fabelhaft auch die Solisten. Alexander Yudenkos prächtiger, tragfähiger Tenor sei gar nicht besonders hervorgehoben, aber beim „Nyne otpuschtschajeschi“ stellt sich doch der frevlerische (?) Wunsch ein, diesen Mann einmal als Parsifal zu erleben…
Rachmaninows Vigil, eine seiner herausragendsten kompositorischen Leistungen, begegnet uns hier in einer Interpretation auf höchstem Niveau – und bereichert den CD-Markt um eine Referenzaufnahme comme il faut!
Friedemann Kluge