Franke, Bernd / Carlo Gesualdo da Venosa

Versuch zur Nähe / Significatio – Gesualdo / Chagall-Musik für Orchester / Madrigale

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Apollon Classic apc 30204
erschienen in: das Orchester 10/2005 , Seite 84

Als kleines Komponistenporträt kann man die vorliegende CD bezeichnen, die Aufnahmen von Orchester-, Kammer- und Vokalmusik des 1959 in Weissenfels geborenen Bernd Franke enthält. Franke, der bereits als Sechzehnjähriger an der Leipziger Hochschule für Musik und Theater Komposition und Dirigieren zu studieren begann, hat sich seit den späten 1980er Jahren auch international einen Namen gemacht. Einen wichtigen Schritt auf diesem Weg bedeutete die Uraufführung seiner Chagall-Musik für Orchester durch das Leipziger Gewandhausorchester unter Leitung von Kurt Masur, Bestandteil eines dreiteiligen Chagall-Zyklus, der für Franke schon vor dem Ende der DDR den Weg in die westeuropäische und US-amerikanische Musikszene bahnte.
Der vorliegende Uraufführungsmitschnitt zeigt Franke als einen Komponisten, der fantasievoll mit der Orchesterpalette umgeht und Anregungen aus der Musikgeschichte kreativ aufgreift. Erkennbar bleibt bei seiner Chagall-Musik das Modell der viersätzigen Sinfonie, wenn auch durch Prolog, Epilog und zwei „Interludien“ erweitert. Die bildliche Anregung durch die Kunst Chagalls schlägt sich im zweiten, Scherzostelle vertretenden Satz nieder, wo die kleine Trommel das Symbol der Uhr bei Chagall in ein rasendes mechanisches Ticken umsetzt, und mehr noch in der Figur des jiddischen Fiedlers, der ohne Erdnähe in der Luft zu tanzen scheint. Von dieser Bildvision sind das Adagio und die ruhigen kammermusikalischen „Interludien“ inspiriert, in denen die Solovioline und später hinzutretende weitere Solostreicher sich vom Orchester emanzipieren. Gegenüber dem oft massiven und rhythmisch getriebenen Orchesterklang behalten sie schließlich die Oberhand, mit einer idyllischen Musik, in der Anklänge an Mahler und Charles Ives unüberhörbar sind.
In den Bereich der Kammermusik führen Frankes 1999/2000 komponierte „Fragmente“ für Streichquartett. Versuch zur Nähe lautet ihre Überschrift, denn nicht von der Idee eines harmonischen Miteinander vierer gleichberechtigter Partner geht Frankes Komposition aus, sondern von der isolierter Individuen, zu verschieden in ihren Ansichten, als dass sich von Anfang an ein einvernehmliches Gespräch ergeben könnte. In fünf kurzen, weniger als drei Minuten dauernden Sätzen tasten sich die vier Musiker des Leipziger Streichquartetts aufeinander zu, um im etwas ausgedehnteren Finale ihre Eigenständigkeit neuerlich zu betonen.
Von wieder anderer Seite zeigt sich Bernd Franke in dem Auftragswerk Significatio – Gesualdo, das er im Jahr 2001 für die „Hallenser Madrigalisten“ schuf. Die Aufgabenstellung, Madrigale des 21. Jahrhunderts zu komponieren, führte bei der Suche nach geeigneten Texten zurück in die Vergangenheit, und zwar zu Carlo Gesualdo da Venosa. Fünf von dessen Madrigalen bilden die direkten Modelle für Frankes Neuschöpfungen, wobei die ursprünglichen Texte in Partikel zerlegt und neu collagiert wurden.
Aus Gesualdos hochexpressiver Musiksprache filtert Franke einzelne Emotionszustände heraus und verdichtet sie; dem Original nähert sich sein Chorsatz in manchen Momenten (etwa bei „Moro lasso al mi duolo“) bis zur Verwechselbarkeit, verwendet aber auch rhythmisches Skandieren, Glissando-Effekte und andere Artikulationsformen der Gegenwart vom Flüstern bis zum Schrei, begleitet von Aufstampfen und Fingerschnipsen. Die Möglichkeit der Koppelung mit den Originalen Gesualdos wird in der vorliegenden Einspielung genutzt: Die „Hallenser Madrigalisten“ lassen Gesualdos exaltierte Liebesseufzer mit glühender Intensität erklingen.
Gerhard Dietel