Heer, Hannes / Sven Fritz / Heike Drummer / Jutta Zwilling

Verstummte Stimmen

Die Vertreibung der "Juden" und "politisch Untragbaren" aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Metropol, Berlin 2011
erschienen in: das Orchester 10/2011 , Seite 61

Diese Veröffentlichung in der Reihe „Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen“ schildert die Kulturpolitik des Nationalsozialismus während seiner Schreckensherrschaft in Hessen. Dargestellt werden die Vorgänge am Hessischen Landestheater in Darmstadt (Hannes Heer), an den Theatern in Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen (Sven Fritz) und an den Städtischen Bühnen in Frankfurt am Main (Heike Drummer und Jutta Zwilling). Damit werden Forschungsergebnisse mitgeteilt, die weitgehend zum ersten Mal anlässlich eines wissenschaftlichen Workshops am 10. Oktober 2009 in Darmstadt veröffentlicht wurden. Ein eher vernachlässigter Aspekt der nationalsozialistischen Verfolgungsgeschichte wird dadurch aufgedeckt.
Auch die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Ausgrenzungspolitik wird am Beispiel Darmstadt erhellt. Schon von 1918 an stand dieses Theater im Kreuzfeuer einer rassistisch und nationalistisch geprägten Hetze. Unter anderen riefen die Inszenierungen Gustav Hartungs einerseits Begeisterung, andererseits wütende Schmähungen des nationalsozialistischen Kulturpöbels hervor. Nach der so genannten Machtergreifung musste Hartung nach einem unwürdigen Kesseltreiben fliehen. Doch auch in Basel beschädigten ihn die hasserfüllten Angriffe der Nazis nachhaltig.
Auf ähnliche Weise wird das Schicksal von Schauspielern und Musikern kürzer oder länger dargestellt. Der Bariton Siegfried Urias, der Orchestergeiger Karl Jäger, der Hornist Karl Lindner, der Dirigent Hermann Adler und viele andere werden genannt, aber auch Logenschließer, Garderobieren oder Theaterschreiner. Sie wurden willkürlich deklassiert, entlassen und durch linientreue Parteigenossen ersetzt – künstlerische Qualität war offensichtlich nicht mehr die Hauptsache. Einige der inkriminierten Künstler hielten bis nach 1945 durch, andere flohen ins Exil oder landeten im KZ. Dass das weitere Geschick der auf diese Weise enthaupteten Bühnen wenig ruhmvoll ist, versteht sich von selbst. Erschwerend kommt die unberechenbare Willkür der Machthaber hinzu. Die Sicherheiten, die ein kontinuierliches künstlerisches Schaffen braucht, wurden systematisch zerschlagen.
An den anderen hessischen Bühnen ging es ähnlich zu. Über Einzelschicksale zu berichten würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen; doch besteht das eigentlich Verdienstvolle des Bandes gerade darin, dass den Einzelschicksalen nachgegangen wurde. Wertvoll ist auch die Fülle an Porträtfotos. So gewinnen die von den Nazis Verfolgten Gesicht und Profil. Aber auch die Täter werden mit Namen und Foto dem schonenden Vergessen entrissen.
Ergänzt wird der Band durch eine Bilanz der Forschungsergebnisse und durch Perspektiven für die Zukunft der einschlägigen Untersuchungen. Die Quellen sind durch ausführliche Fußnoten belegt. Ein Personenregister hätte dem Band noch mehr Benutzerfreundlichkeit verliehen. Doch auch in der vorliegenden Form ist er ein erhellendes und erschütterndes Dokument nationalsozialistischer Unkultur.
Diederich Lüken

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