Härtling, Peter
Verdi
Ein Roman in neun Fantasien
Musiker-Romane gehören seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur festen Lektüre des Bildungsbürgertums, das offenbar glaubt, so seinen Helden und sogar dem geheimnisumwitterten Schöpfungsakt näher kommen zu können. Ebenso wie bei den entsprechenden Filmen handelt es sich dabei meistens aber um süßliche Rührstücke, in denen gottbegnadete Lichtgestalten gegen Unverständnis und Missgunst ihrer Zeitgenossen kämpfen müssen, um wenigstens nach einem verklärten Tod endlich zu triumphieren. Vor dieser zweifelhaften Tradition ist es nicht leicht, sich diesem Genre heute noch mit seriösen Absichten zu nähern, und obwohl Peter Härtling dazu schon Lesenswertes über Franz Schubert, Robert Schumann und Fanny Hensel-Mendelssohn geliefert hat, durfte man auf seine Annäherung an Verdi besonders gespannt sein, weil mit Franz Werfels Roman von 1924 bereits eine bedeutende literarische Auseinandersetzung existiert.
Härtlings Erzählung setzt kurz nach der Uraufführung der Aida am 25. Dezember 1871 und ihrem anschließenden Siegeszug durch die Opernhäuser der Welt ein, als Verdi seine schöpferische Laufbahn eigentlich für beendet hielt. Er dachte allenfalls noch an kleinere Werke, wie das 1873 komponierte Streichquartett, und wenn er sich im Folgejahr mit dem Requiem noch für etwas Größeres entschied, so mied er zugleich standhaft sein bisheriges Schaffensgebiet. Doch dann arrangierte sein Verleger nicht ohne Hintergedanken die Bekanntschaft mit Arrigo Boito, der dem Komponisten scheinbar beiläufig und unverbindlich Libretto-Entwürfe zeigte, was diesen glücklicherweise zu seinen beiden letzten und epochalen Meisterwerken, Otello und Falstaff, veranlasste.
Zwar streift Härtling gelegentlich auch ästhetische Fragen, aber sein wesentliches Interesse gilt dem Altern. Für Verdi bedeutete dies, Erinnerungen nachzuhängen, zunehmende Gebrechlichkeiten zu meistern, besonders aber und noch schmerzlicher, Abschied zu nehmen: letzte Reisen in der Gewissheit, den Strapazen künftig nicht mehr gewachsen zu sein, das Ordnen des Nachlasses und die Wahrung der beiden Vermächtnisse des Krankenhauses nahe SantAgata und des Altersheims für Musiker in Mailand. Hinzu kam die zunehmende Vereinsamung durch den Tod vieler Weggenossen, wie 1888 der Verlust Tito Ricordis, seines freundschaftlich verbundenen Hauptverlegers, oder 1897 der seiner zweiten Frau, Giuseppina Strepponi, womit für ihn jede Lebensfreude erlosch. Auf der anderen Seite stand die Begegnung mit der Enkelgeneration, wie mit dem jungen Arturo Toscanini, und der Ausblick auf eine nicht mehr erfahrbare, kaum zu verstehende, aber doch hoffnungsvolle Zukunft. Dabei hat Härtling, selbst Jahrgang 1933, sicher eigene Erfahrungen und Lebensfragen thematisiert, wodurch die melancholische Schilderung besonders authentisch wirkt.
Parallel zur gedruckten Ausgabe ist der Roman als Hörbuch erschienen (GoyaLit, 4 CDs), das Markus Hoffmann mit angemessener Zurückhaltung liest und so gleichsam in eine milde Abendröte taucht.
Georg Günther