Venezia
Werke von Monteverdi, Henze, Gottwald, Castiglioni und Giovanni Gabrieli
Seit die seefahrende Serenissima Republica flämische Musiker verpflichtete, deren venezianische Schüler den Markusdom mit ihren raumgreifenden Chorgesängen erfüllten, galt die Lagunenstadt als Hort der chori spezzati. Begünstigt durch die Emporen und Verbindungsstege von San Marco kultivierten die beiden Gabrielis, Andrea und sein Neffe Giovanni, daselbst das mehrchörige Musizieren. Befördert durch Hans
Leo Hassler und Heinrich Schütz, die sich die neue Kunst in San Marco abhorchten, fand diese bald in ganz Europa Widerhall. Auch Claudio Monteverdi zog es nach Venedig, (viel) später Liszt und Wagner, schließlich Hans Werner Henze. Und, auf Strawinskys Spuren, den Mailänder Neutöner Niccolò Castiglioni.
Jeder huldigte dem Geist der Stadt auf seine Weise, und so liegt es nahe, ihre Stimmen zu einem Kranz zu flechten. Philipp Ahmann, seit 2008/09 Leiter des NDR Chors, dem er eine eigene Abonnementsreihe bescherte, schmückte seine dritte Spielzeit mit eben dieser Programm-Idee. Wobei er die Blechbläser des Sinfonieorchesters, die NDR Brass, mit in die Gondel holte: im Wechsel oder auch zusammen mit den Chorstimmen, die Ahmann zu schlanker Linienzeichnung und peinlich sauberer Intonation anhält.
Das Konzertprogramm, aufgenommen in St. Johannis zu Hamburg-Harvestehude, beginnt mit Monteverdis Fanfaren-Ouvertüre zu LOrfeo ein klangprächtiges Vorhang auf! für drei Motetten aus dessen erstem Madrigalbuch. Barocker Praxis entsprechend lässt Ahmann den Fundamentbass instrumental stützen. In seinem aufschlussreichen Programmkommentar macht Habakuk Traber auf die rhetorische Figurengestik aufmerksam, die Monteverdi den Chorstimmen textdeutend einschrieb.
Unvermittelt reißt Henzes Sonata per otto ottoni (1983) den Hörer aus dem Glück chorischen Wohlklangs in die herbe Blechbläserwelt des vorgerückten 20. Jahrhunderts. Wiewohl sich der Maestro im Sinne von Musik über Musik an ein Concerto di sonate von Tomaso Vitali aus dem frühen 18. Jahrhundert hielt.
Knapp zwei Monate vor Wagners Tod in Venedig nutzte Liszt eine Rom-Reise zu einem Besuch im Palazzo Vendramin, wo Tochter und Schwiegersohn nach der Uraufführung des Parsifal weilten. Von einer Gondel habe er geträumt, die Wagners Leichnam über den Canal Grande brachte (siehe La gondola lugubre für Klavier). Als Liszt im Februar 1883 die Nachricht vom Tod des Meisters erhielt, grub er seinen Schmerz in das karge Klavierstück R. W. Venezia. Clytus Gottwald, langjähriger Leiter der Schola Cantorum Stuttgart, schuf es in einen Chorsatz um, dem er Bruchstücke aus Wagners Parsifal einkomponierte zu Versen aus Venedig-Gedichten von Friedrich Hebbel. Auch Wagners Wesendonck-Lied Im Treibhaus, einer Art Vorecho auf Tristan und Isolde, gewann Gottwald eine betörende Chorversion ab. Beiden Nachschöpfungen widmet sich der NDR Chor mit Hingabe. Bevor die SACD mit zwei Bläser-Canzonen und zwei Motetten von Giovanni Gabrieli festlich ausklingt, ehrt der NDR Chor mit Castiglionis Sonetto in memoriam Igor Strawinsky den prominentesten Toten der Friedhofsinsel San Michele.
Lutz Lesle