Wilson, Ian

Veer

String Quartet No 4, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Universal Edition, Wien 2004
erschienen in: das Orchester 03/2005 , Seite 77

„Life, for me, is the principle subject of music“, bekennt sich der irische Komponist Ian Wilson (geb. 1964) zum existenziellen Impetus einer Klangsprache, wo alle strukturellen und materiellen Dimensionen im Dienst einer unmittelbaren Expressivität stehen. Außermusikalischen Inspirationsquellen und Sujets, insbesondere aus den Nachbarkünsten, kommt da naturgemäß große Bedeutung zu.
Eine besondere Affinität hegt Wilson zur Malerei, was sich in seinem vierten Streichquartett Veer (ein Wortspiel aus dem deutschen Zahlwort „Vier“ und der englischen Wortbedeutung „plötzlicher Richtungswechsel“) besonders deutlich widerspiegelt, dessen zwei relativ homofon gearbeitete Sätze auf Gemälde von Edward Munch zurückgehen: Der Schrei und Melancholie. Allerdings in einer eher assoziativen Weise, die Wilson so beschreibt: „Die Musik versucht nicht, die Bilder auf musikalischem Wege abzubilden, eher findet sie musikalische Ideen anhand der Reflektionen über die Bilder.“
Klar, dass die im Angesicht der abgründigen Bild-Inhalte nicht gerade beschaulich daherkommen: aggressively energetic (Viertel = 72) lautet die Spielvorschrift zum ersten Satz, der mit einem schroff herausgepressten „Schrei“ des Violoncellos beginnt und sich mit seinen konvulsivisch rhythmisierten und dynamisierten Tonrepetitionen zu einer ganzen Kette von Schreien weitet, begleitet von trüben Cluster-Harmonien oder echoartigen Reflexen der anderen Instrumente. Ein hysterischer Monolog, der, entsprechend einer außer Kontrolle geratenen psychischen Befindlichkeit, sich auf metrisch schwankendem Boden bewegt und autistisch in sich selbst kreist wie Schübe von Angst und Verzweiflung. Nach einem orchestralen Beschleunigungsfeld wandert er in die Bratsche. Dem manischen Sujet entspricht eine Faktur, die sich vor allem auf Repetitionen, Umspielungen und unterschiedliche Einfärbungen eines Zentraltons konzentriert. Da werden Einklangspassagen von dissonanten Akkordschlägen zersetzt, wuchern nervöse Sechzehntel-Läufe und chromatische Lineaturen über tremolierenden Orgelpunkten, wechseln Abschnitte expressiv gespannter Intervallik mit statischen, glissandierenden Klangflächen oder rauschenden Cluster-Bändern.
Nicht minder abgründig kommt der darkly (Achtel = 64) überschriebene zweite Satz daher, auch wenn dessen Klangwelt in wesentlich ruhigeren und melodisch konturierteren Bahnen verläuft. Er basiert ebenfalls auf einem bordunartig im Hintergrund präsenten Zentralton, über dem sich feingliedrige chromatische Figurationen bilden – melancholisch, flüchtig, geisterhaft.
„Deo gratias“ heißt es im Zusammenhang der abschließenden Datierung des Werks („16.II.2000“), ein Dankeswort, das vielleicht erst plausibel wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Wilson eine Zeit lang im Kosovo lebte und 1999 in Belgrad ein dreitägiges Nato-Bombardement mitmachte – was auf diese hoch-
expressiven „Bildbeschreibungen“ ein ganz spezielles Licht wirft.
Dirk Wieschollek