Kolbe, Corina

Unverwechselbar im Internet

Wie sich Orchester erfolgreich multimedial vermarkten

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 12/2009 , Seite 28
Bei der Vermarktung klassischer Musik setzen Plattenfirmen zumeist auf die klangvollen Namen großer Stars. Berühmte Dirigenten und Solisten locken Käufer an, Orchester und ihr Repertoire werden dagegen oft erst auf den zweiten Blick wahrgenommen. Um sich stärker als Marke zu etablieren und Veröffentlichungen unabhängiger planen zu können, haben mehrere Klangkörper im In- und Ausland inzwischen eigene CD-Labels gegründet. Doch hat diese Strategie in Zeiten, in denen die Tonträgerbranche über Absatzprobleme stöhnt und Musik zunehmend über verschiedene Kanäle im Internet konsumiert wird, überhaupt noch eine Zukunft? Auch die Frage, ob Übertragungen von Aufführungen in Bild und Ton mittlerweile nicht attraktiver sind als das reine Hörerlebnis, scheint hier durchaus berechtigt.

Die Staatskapelle Dresden bietet neben ihren Einspielungen für verschiedene Plattenfirmen seit 2005 unter ihrem Namen auch eine eigene CD-Edition an. In Zusammenarbeit mit Figaro, dem Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks, werden alte und neue Aufnahmen des Orchesters aus den MDR-Archiven zutage gefördert. Einen ähnlichen Weg gehen die drei Orchester des Bayerischen Rundfunks mit dem kürzlich gegründeten Eigenlabel BR-Klassik. Die Rundfunkanstalt kann somit selbst entscheiden, wann sie welche Aufnahmen veröffentlicht. Außer Mitschnitten erfolgreicher Konzerte sollen auch Raritäten mit höheren Verkaufsrisiken auf den Markt gebracht werden. Denn der BR nimmt nach eigenen Worten seinen öffentlich-rechtlichen Förderauftrag ernst. Vertrieben werden die CDs über die Firma Naxos, geplant sind zudem digitale Downloads über Portale wie iTunes. Die Staatskapelle Dresden bietet dagegen nur einige bei großen Firmen wie Sony und Deutsche Grammophon erschienene CDs auch bei iTunes an.
Die Gründung von Hauslabels überzeugt am meisten dort, wo unterschiedliche Wege der digitalen Vermarktung gleichzeitig genutzt werden, um neue Kunden (und letztlich auch ein größeres Publikum für die eigenen Konzerte) zu gewinnen. Das Livestreaming von Kon­zerten im Internet spielt in diesem Zusammenhang eine immer größere Rolle. Da kostspielige Studioaufnahmen sich kaum noch rechnen, setzen viele Orchester und Opernhäuser inzwischen auf Liveproduktionen, die dank ausgefeilter Aufnahmetechniken ein viel hö­heres technisches Niveau erreichen als früher. Orchester wie das London Symphony Orchestra (LSO) und das Koninklijk Concertgebouw­orkest (RCO) in Amsterdam setzen ihre Websites offensichtlich mit gutem Erfolg als Vertriebsplattformen für ihre Labels ein.
Unter der Marke LSO Live sind seit dem Jahr 2000 bislang über 60 CDs und Super Audio CDs mit Konzertmitschnitten des Londoner Traditionsorchesters herausgekommen, die auch zum Download bei iTunes, eMusic und Amazon bereitstehen. Orchestermitglieder, Dirigenten und Solisten werden als Stakeholder an den Gewinnen beteiligt. Auf der Website ist als besonderer Service die digitale Version des Katalogs mit allen Veröffentlichungen einzusehen. Neben Videoausschnitten stellt das LSO außerdem einen eigenen Live Music Player bereit, mit dem Nutzer beispielsweise exklusiv Ausschnitte aus noch unveröffentlichten CDs abspielen können.

Eigenlabel als Dachmarke für verschiedene Medienaktivitäten
Das Concertgebouworkest vermarktet unter RCO Live nicht nur eigene CDs, DVDs und SACDs von Konzerten mit seinem Musik­direktor Mariss Jansons und anderen Dirigenten. Die 2004 gegründete Marke hat sich so erfolgreich etabliert, dass unter ihrem Dach inzwi­schen unterschiedliche Medienaktivitäten des Orchesters gebündelt werden. In Kooperation mit der Rundfunkgesellschaft AVRO überträgt das RCO seine Konzerte online über seinen eigenen Radio- und Fernsehsender. Im RCO Live Shop sind CDs und DVDs erhältlich, die allerdings nicht zusätzlich bei iTunes und anderen Anbietern in Digitalversion angeboten werden. Stattdessen stehen zehn von dem Orchester eingespielte Symphonien zum Gratis-Download bereit.
Während die Berliner Philharmoniker auf der eigenen Website ihre bei großen Labeln erschienenen CDs und DVDs noch ganz konventionell in einer Übersicht ohne Downloadmöglichkeiten bewerben, sind sie mit ihrer Streaming-Plattform Digital Concert Hall weltweit Vorreiter. Zum ersten Mal überträgt ein großes Symphonieorchester in Echtzeit und in HD-Qualität die Konzerte der gesamten Saison und stellt sie danach im Archiv bereit. Das Angebot, das Spitzenorchester am heimischen Computer zu erleben und zugleich ganz nah dabei zu sein, wird vom Publikum bisher gut angenommen. So kann der Marketing- und Kommunikationschef der Berlin Phil Media Gmbh, Tobias Möller, nach einem knappen Jahr eine erfreuliche Zwischenbilanz ziehen. Die Kombination aus technischer Innovation, einem zukunftsorientierten neuen Vertriebsweg für klassische Musik und dem Namen Berliner Philharmoniker ziehe viele Leute an, sagt Möller. Neben Deutschland ist vor allem Japan ein wichtiger Markt, weswegen nun auch eine japanische Version der Website programmiert worden ist.
Die Digital Concert Hall kann und will das einzigartige Liveerlebnis im Konzertsaal nicht ersetzen, ist aber eine gute Alternative für Klassikliebhaber, die nicht direkt am Ort dabei sein können. Die Tatsache, dass Saison-Abos besseren Absatz finden als Einzeltickets, zeigt Möller, dass die Liveübertragungen Internetnutzer auch längerfristig an das Orchester binden. Die Ankündigungen der Online-Konzerttermine regen außerdem viele Besucher der Website dazu an, im Archiv zu stöbern. So haben die Betreiber der Plattform die kuriose Erfahrung gemacht, dass an Tagen mit Liveübertragungen die meisten Nutzer auf ältere Konzerte zurückgreifen. Letztlich handele es sich natürlich immer noch um Aufführungen aus der Jetztzeit, zu der die Konzertbesucher einen unmittelbaren Bezug hätten, meint Möller. Dies schließe aber nicht aus, dass aus Liveübertragungen und -mitschnitten auch zeitlos gültige Referenzaufnahmen entstehen könnten.

Auch Opernhäuser setzten auf Multimedialität
Der Konzertbesucher erlebt nicht nur die Musik, sondern kann auch das Orchester in Aktion beobachten. Besonders reizvoll sind multimediale Gesamtpakete von Aufführungen daher für Opernhäuser, die neben der Musik auch die dazugehörige Inszenierung außerhalb des Zuschauersaals präsentieren können. Neben Public Viewing auf der Großleinwand und Podcasts bieten etwa die Bayreuther Festspiele Aufführungen als Livestream in Internet an. Die Metropolitan Opera in New York überträgt in dieser Saison neun Opernabende live in Kinos, später stehen die Aufführungen auf der Website „on demand“ bereit. Abgespielt werden sie mit einem eigens dafür konzipierten Met Player, der sieben Tage lang kostenlos getestet werden kann.
Auch einige Opernhäuser in Deutschland stellen längst nicht mehr nur kurze Trailer ihrer Produktionen ins Netz. Zum Auftakt einer Reihe von Liveübertragungen war im Oktober vergangenen Jahres die Premiere von Richard Strauss’ Oper Salome im Theater Aachen live und kostenlos auf dem Internetportal myclassicmusicworld zu sehen. Unter dem Stichwort Opern-TV zeigt die Bayerische Staatsoper außerdem Videos mit Opernausschnitten und Interviews mit den beteiligten Künstlern. Ein komplettes Liveerlebnis der Saison am Computer, wie es die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker offeriert, haben aber weder die hiesigen Opernhäuser noch die übrigen Orchester zu bieten.