Komarova, Tatjana

Ungemalte Bilder

für Streichquartett, Partitur und Stimmen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2002
erschienen in: das Orchester 03/2004 , Seite 80

Die russische Komponistin Tatjana Komarova (geb. 1968) scheint – betrachtet man ihren Werkkatalog – eine ausgesprochene Vorliebe für Kammermusik in traditionellen Besetzungsformen zu hegen. Ihr Streichquartett Ungemalte Bilder (2002), ein Auftragswerk des Lucerne Festivals, hat mit formalen Konventionen jedoch wenig am Hut. Vielmehr präsentiert sich das ca. 20-minütige Werk als zehnteilige Folge kontrastiver, aphoristischer Klangbilder, deren wechselnde Tempobezeichnungen sozusagen programmatisch Auskunft über die Ausdruckscharaktere geben: verträumt – beunruhigt – schwer, gewichtig – verspielt – irreal – still – nervös – geheimnisvoll – grazioso – espressivo.
Im Rahmen einer übergeordneten Einsätzigkeit sind die einzelnen Abschnitte durch deutliche Zäsuren (Generalpausen) getrennt, die wie Impressionen flüchtiger Erinnerungs- oder Traumsequenzen so unvermittelt abreißen, wie sie ansetzen können. Dabei verzichten die Ungemalten Bilder weitestgehend auf klangliche Extravaganzen oder außergewöhnliche Spieltechniken und berufen sich fern schriller Farben und pastoser Pinselführung vor allem auf die althergebrachte Wirkung melodischer und harmonisch gespannter Expressivität chromatischen Zuschnitts.
Leise Töne und teils extrem langsame Tempi dominieren diese atonale Klangpoesie von nächtlich-verhangener Grundstimmung, deren clusterartige Sekundschichtungen die melodischen Konturen in morbid fluoreszierende Farben tauchen – im steten Wechsel von melancholisch-kantablen, luziden oder ausgeprägt klanglich dominierten Abschnitten. So beginnt das Quartett mit auf- und abwogenden Linien der 1. Violine in schwerelos fließender Rhythmik, die von trüb dissonierenden Akkorden begleitet werden (verträumt); es folgt eine unterschwellig nervöse, zersplitterte 6/8-Bewegung in dichterem Satz (beunruhigt), wozu der dritte Teil schwer und gewichtig mit extremer Homofonie kontrastiert, dessen melodischer Gedanke als eine Folge ächzender Cluster „harmonisiert“ ist. Ebenfalls unmissverständlich sonoristisch orientiert sind der sechste (still) und siebte Abschnitt (nervös): Statische, sanft irisierende Flächen werden von rotierenden Klangbändern aus kleinen Sekunden abgelöst, die in rasenden Sextolen dahinrauschen – Ligeti lässt grüßen.
Dagegen finden sich in den tänzerischen Passagen mit ausgeprägtem Scherzo-Gestus (verspielt – grazioso) nicht nur stolpernde Metrum-Wechsel à la Bartók, sondern auch deutliche Dreiklangsbildungen und tonale Allusionen. Gewichtigster „Satz“, schon von den räumlichen Dimensionen her, ist der Schlussabschnitt, der als ausladendes Rezitativ der 1. Violine ansetzt und im Verlauf zu hochexpressiven Verdichtungen und dynamischen Steigerungen führt, die ein nicht unbedingt innovatives, aber sehr poetisches Quartett zu einem leidenschaftlich-erregten Ende bringen.
Dirk Wieschollek