Josipovici, Gabriel

Unendlichkeit

Die Geschichte eines Augenblicks

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Jung und Jung, Salzburg und Wien 2012
erschienen in: das Orchester 02/2013 , Seite 60

„Von allen Kunstrichtungen ist Musik die direkteste. Sie geht direkt ins Herz und direkt in den Körper.“ So spricht der Komponist Tancredo Pavone zu seinem Kammerdiener Massimo, den man heutzutage wohl „personal assistant“ nennen könnte. Massimo sorgt dafür, dass Pavones Schuhe stets blank geputzt, alle Hemden und Anzüge tadellos gereinigt sind, er chauffiert den Komponisten, wo immer er hinwill. Und während dieses jahrelangen Dienens erfährt er nach und nach Episoden aus dem Leben des exzentrischen Komponisten, der, aus einem alten italienischen Traditionsgeschlecht stammend, als Kind Klavier spielen lernte, Komposition u.a. in Wien studierte, wo er sich mit der Zwölftontechnik befasste, und Mitte der 1940er Jahre in eine Schaffenskrise geriet, die er mithilfe eines Sanatoriumsaufenthalts, einer Reise nach Indien und Nepal und des Studiums fernöstlicher Weisheitslehren überwand. Die Krise nahm entscheidenden Einfluss auf seine Kompositionen, die sich vornehmlich mit der Suche nach dem wahrhaftigen Klang in der Gegenwart befassten. Pavone selbst: „Ich wollte Musik schreiben, die wahrhaftig war. Wahrhaftig gegenüber unserer Erde. Wahrhaftig gegenüber unserem Planeten. Und wenn sie wahrhaftig ist, dann wird sie erschreckend sein.“
Das klingt gewagt, esoterisch, irritierend. Doch wer je einen Höreindruck von der Musik des 1905 geborenen Italieners Giacinto Scelsi gewonnen hat, wird verstehen, warum der Autor dieses Romans, Gabriel Josipovici, den Komponisten in Unendlichkeit diese Sätze sagen lässt. Denn Scelsi, der als Conte Giacinto Francesco Maria Scelsi d’Ayala Valva geboren wurde, über den zu Lebzeiten weder Fotos noch Handschriften noch persönliche Statements an die Öffentlichkeit drangen, ist der Komponist, den sich Josipovici hier zum Vorbild, oder besser zur Projektionsfläche für seinen schrulligen Komponisten genommen hat, dessen Musik von einiger Befremdungskraft ist. Dass es sich bei dem Versuch, Scelsis Lebensgeschichte und sein Verhalten zu imaginieren, bei einem so entschieden unter Verschluss gehaltenen Privaten um Spekulation handelt, markiert der Autor, indem er eine Rahmenhandlung einführt, in der Massimo das ihm Erzählte im Rahmen einer Interviewsituation schildert. Alles ist also doppelt vermittelt, einmal über Massimo, und dann über den Erzähler selbst, und wirkt dadurch einerseits sehr wenig greifbar, andererseits über die direkten Redesituationen sehr präsent.
Man darf davon ausgehen, dass der Literaturwissenschaftler und Autor Josipovici in diesem intelligent komponierten, vergnüglich zu lesenden Roman über einen Sonderling der Musikwelt des 20. Jahrhunderts diese Form ganz bewusst gewählt hat, um ein Schillern von Wahrhaftigkeit und Fiktion zu einem bestimmenden Element zu erzeugen – und eine Unmittelbarkeit, die sich anzunähern versucht an Scelsis Versuch, Gegenwart kompositorisch zu erfassen. Zudem gelingt Josipovici, der sich für die Arbeit an dem Roman auch in der römischen Fondazione Scelsi aufhielt, die den Nachlass des Komponisten verwaltet, eine spannende Annäherung an die kompositorischen Prämissen von Scelsis eigenartiger Musik.
Beate Tröger