Richter, Ulrike

Unbewusste Ebenen des Musizierens und Musikhörens

Psychoanalytische Deutungsansätze im Vergleich

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Books on Demand, Norderstedt 2008
erschienen in: das Orchester 06/2009 , Seite 61

Theorienvergleiche gehören zu den anspruchsvollsten Aufgaben in der Wissenschaft. Denn sie gelingen nur dem, der mit Fragestellungen und Zugangsmethoden verschiedener Ansätze vertraut ist und über ein hohes Maß an kritischer Analyse- und Urteilskraft verfügt, um Theorien in ihrer Zeitbedingtheit, nach ihren Begriffshorizonten und in ihren sachlichen wie ideologischen Voraussetzungen bewerten zu können. All das ist nötig für fundierte Einschätzungen von Reichweite und Gültigkeit verschiedener Theorien.
Wer sich nun dieser Mühe unterzieht und dabei das Gebiet der Tiefenpsychologie mit ihrem Spezialfall Psychoanalyse betritt, sieht sich besonderen Schwierigkeiten gegenüber, denn die Sprache all dieser Ansätze ist metaphorisch und kulturgeschichtlich getränkt. Die mythischen Figuren Ödipus und Narziss oder das „innere Afrika“, wie Jean Paul das Unbewusste bildhaft bezeichnet hat, sind Beispiele für die Deutungsbedürftigkeit zentraler Begriffe des tiefenpsychologischen Menschenbilds samt seiner Verzerrungen, den Krankheiten.
Ulrike Richter hat mit ihrer Diplomarbeit versucht, psychoanalytische Deutungsansätze im Blick auf die unbewussten Vorgänge auf dem Feld der Musik untereinander zu vergleichen – und hat sich damit kräftig verhoben. Ohne das geringste Problembewusstsein für die Ansprüche, die ihre Fragestellung erhebt, montiert sie erläuterungsbedürftige Textstellen aus allerhand Literatur (der Großteil ist übrigens veraltet, wenn auch nach neuesten Auflagen zitiert) und versammelt Definitionsfetzen zur Triebtheorie, zum Konzept des Unbewussten, zu Abwehr, Sublimierung, Narzissmus, zu Regression und Pathologien. Da Richter nicht in der Lage ist, eine gedankliche Textur aus dem herbeigeschafften Material zu erstellen (ihr eigener Text in der gesamten Arbeit passt – so scheint es mir – auf zehn Seiten), muss die Anwendung der theoretischen Erkenntnisse auf die Musik (auf Musikmachen, Musikhören und Musikschreiben) und da besonders auf die musikpädagogische Arbeit zwangsläufig verunglücken.
Da macht sie aus all den fragilen Erklärungsnetzen des menschlichen Innenlebens harte Fakten: Als gäbe es den Ödipus-Komplex, den Narzissmus, die Symbolbildung (Musikinstrumente als Phallussymbol oder Penisersatz) aus der verdrängten, weil unerlaubten Sexualität oder die Sublimierung als Kunstschaffen ebenso real, wie es Tische und Fische gibt. Allgemein verbreiteten Erfahrungen (Beispiel: Eltern wollen, dass ihr Kind ein Musikinstrument lernt, um stellvertretend Befriedigung daraus zu ziehen – wie reagiert der Pädagoge auf den Schüler?), für die man keine Tiefenpsychologie benötigt, weil sie sich aus dem Umgang mit Menschen ergeben, stülpt Richter völlig naiv den eingesammelten metaphorischen Begriffsbombast über. Sie vergleicht eben nicht verschiedene theoretische Konzepte, sondern holt ihre Bewertungen und Schlussfolgerungen lediglich rhetorisch ein. Dadurch wird das Verständnis von Musik und Menschen in all ihren Facetten jedoch verengt statt erweitert oder vertieft. Und deshalb lernt man nichts: nichts über die Tiefenpsychologie, nichts über Musik, nichts über Musikpädagogik.
Kirsten Lindenau