Holliger, Heinz
Unbelaubte Gedanken zu Hölderlins Tinian
für Kontrabass solo (mit 4 Saiten)
Das kurze Werk ist eine in diesem Jahr erschienene Neufassung für einen Bass mit vier Saiten. Das gleiche Stück, das im Original einen Fünfsaiter vorsah, wurde bereits im Jahr 2002 bei Schott veröffentlicht. Die viersaitige Version ist für die meisten Bassisten sicher praktikabler, und so bleibt zu hoffen, dass diese revidierte Fassung einen größeren Aufführungsradius haben wird.
Das zwischen vier und fünf Minuten dauernde Werk ist auf jeden Fall mehr für die allgemeine Praxis geschrieben als die 2012 erschienene Holliger-Komposition Preludio e Fuga (a 4 voci) für Kontrabass solo in Wiener Stimmung (vergleiche das Orchester 5/13, S. 71). Das Stimmungsbild nach einem Textfragment von Hölderlin ist vergleichsweise leichter zu lesen: Die Notation hält sich bei aller Freiheit der Vorzeichen und Bezeichnungen doch mehrheitlich an traditionelle Muster. Freiheiten hat auch der Spieler selbst bei der Durchführung der Glissandi, beim Umstimmen der Saiten, beim Tempo und bei der dynamischen Gestaltung. Da reichen die Vorgaben von einem einfachen mf bis zum sffpp und zum dreifachen ppp.
Zu Forschen ist nach dem merkwürdigen Titel, der nicht unerlaubte, sondern wirklich unbelaubte Gedanken zitiert. Tinian ist ein Teil der Inselgruppe der Marianen und wurde 1521 von Magellan entdeckt. Die Erde ist ja nur für den rund, der sie wirklich umrundet. Der intellektuelle und vielseitige Oboist, Dirigent und Komponist Heinz Holliger (geb. 1939) ist in seiner Neugier den damaligen Entdeckern nicht unähnlich: Er ist immer auf der Suche nach neuen Gebieten. Das Hölderlinsche Tinian-Fragment aus den Hesperischen Gesängen lautet: Die Blumen gibt es, nicht von der Erde gezeugt, von selber aus lockerem Boden sprossen die, ein Widerstrahl des Tages. Nicht ist es ziemend, diese zu pflücken, denn golden stehen, unzubereitet, ja schon die unbelaubten Gedanken gleich.
Holliger schafft eine Art musikalische Prosa, eine Wortmusik, wenn man so will, oder eine Klangrede. Der Text liegt der Musik nicht silbengetreu unter wie bei einem Lied, es sind vielmehr Stimmungsbilder von großer Dichte und Aussagekraft. Es ist eine klangspekulative Kammermusik, die Deutungen offenlässt. Allein im rubato parlando hat man den Eindruck eines wirklichen Sprechens der Musik. In der nur zweiseitigen Partitur findet man eine häufig aufbrausende Direktheit des Klangs, einen Wechsel zwischen klanghafter und geräuschhafter Präsenz. Es ist, wie bei Holliger eigentlich immer, eine Spurensuche im musikalischen Grenzgebiet. Die erste Fassung für einen Fünfsaiter wurde von Johannes Nied im Jahr 2002 bei den Sommerlichen Musiktagen in Hitzacker uraufgeführt.
Wolfgang Teubner