Gielen, Michael
“Unbedingt Musik”
Erinnerungen
Michael Gielens autobiografisches Buch beginnt mit überaus nachdenklichen Begründungen und Definitionen über das Erinnern. Und eine zeitlang ist sein Erinnern dann auch ein tiefes, zurückfühlendes Eintauchen in eine Kindheit voller Bilder des unbeschwert-kindlichen Glücks und des kindlichen Unglücks. Dazu gibt es Fotografien, in denen das Erinnerte eine zusätzliche Deutlichkeit bekommt.
Im Laufe des Schreibens verlässt Gielen diese biografisch-literarische Intimität und wechselt in einen Stil eines Arbeitstagebuchs. Das spiegelt sein Lebensethos wider, das von der Maxime geprägt war: Wir arbeiten nicht, um zu leben, sondern leben, um zu arbeiten. Das führt aber auch zu einer gewissen Distanz im Ton des Schreibens bis hin zur Beiläufigkeit. Es gibt Momente der Emphase manchmal, wenn es um die Familie geht, immer, wenn es um menschliche und künstlerische Wahrhaftigkeit geht.
Michael Gielen lässt sich nur selten tiefer in die Seele schauen. Trotzdem bildet sich in den Kapiteln, die die zahlreichen künstlerischen Stationen seines Lebens zwischen Stockholm, der Ära Gielen in Frankfurt und der Erfüllung beim SWR-Orchester in Baden-Baden, die Begegnungen mit anderen Künstlerpersönlichkeiten zum Inhalt haben, das Bild eines Mannes von hoher Menschlichkeit, von nicht geringer Verletzlichkeit. Sogar hinter anekdotischer Leichtigkeit steht Lebensernst: Adornos gockelhafte Aufdringlichkeit hat für Gielen spürbar auch etwas Amoralisches, und das nicht nur, weil es um seine eigene Frau ging. Mit wachen, kritischen Augen und Ohren eingestreut sind immer wieder Bissigkeiten über Kollegen (Karajans stromlinienförmiger Klang), die im nächsten Moment uneingeschränkter Bewunderung weichen können. Die Wachheit bezieht sich auf einen einfühlsamen Umgang mit Anderen, den Gielen auch für sich einfordert und auch oft schmerzlich vermisst bis hin zu Gefühlen der Demütigung, als man ihn in Stockholm nicht mehr wollte. In solchen Situationen kehrt wohl das Gefühl zurück, das Gielen im Kindheitskapitel als konstitutiv für sich beschrieben hat: traurig, allein, ohne die Gruppe, in der ich mich aufgehoben fühlte.
Solche menschlichen Schutzgürtel gab es für Gielen etwa in der legendären Ära Gielen in Frankfurt, als man dort manche abgenutzte olle Oper zum ersten Mal gesehen habe und das Haus heraustrat aus der Reihe der bürgerlichen konventionellen deutschen Stadttheater. Die Erinnerung an Frankfurt ist Gielen Anlass für wichtige Fremd- und Selbsteinschätzungen. Es gab Wagner, gehört mit den Ohren Baudelaires oder Debussys und Puccini ohne das Süßliche. Gielen sagt hier über sich: Ich habe mich einmal als einen getreuen Korrepetitor bezeichnet und mein unspektakuläres, sachbezogenes Musizieren wurde nicht gleich wahrgenommen als die nötige Korrektur zum eitlen Schaugepränge und der effekthaschenden Verlogenheit, die die Wiedergabe von Musik meist prägt.
Der letzte Teil der gielenschen Erinnerungen ist Erfahrungen und Gedanken überschrieben und besteht aus einer Reihe von Essays zu musikalischen Fragen. So etwa der Versuch, über den Weg der Literatur (Musil) der Musik (Mahler) habhaft zu werden. Oder ein eindringliches Plädoyer für Franz Schreker. Ein Kapitel Vom Dirigieren wird manchen Leser künftig womöglich aufmerksamer im Konzert zuhören lassen. Ein Kapitel gehört dem wichtigen eigenen Komponieren. Und ziemlich am Schluss gibt es dann doch das unverstellt Persönliche in dieser Biografie, das Was ich heute liebe: Wein, Seurat (der künstlichste
, vielleicht deshalb mir der nächste), Zigarren, Himbeeren, Mozarts Così fan tutte und Goethes Wahlverwandtschaften und Glocken mit ihren faszinierenden Klängen. Michael Gielen war sein Leben sicher nie auf der Suche nach dem fernen Klang, aber nach einem anderen, neuen. Wie und dass er ihn gefunden hat, ist in diesem Buch zu lesen. Fotos dokumentieren die Ära Gielen in Frankfurt, eine Diskografie und ein Personenregister komplettieren das Buch.
Günter Matysiak