Fuchs, Helmut V.

Umnutzung

Kirchen als Räume zum Darbieten und Aufnehmen von Musik

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: das Orchester 06/2009 , Seite 20
Durch einen zu tiefen Frequenzen fallenden Nachhall lassen sich Kirchen akustisch optimal für die Darbietung, Aufnahme und Wiedergabe von Musik konditionieren. Dies wird am Beispiel der für ihre außergewöhnliche Raumakustik gerühmten Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem ausgeführt, die seit 60 Jahren von den besten Solisten und Ensembles als Konzertsaal und Produktionsstätte bevorzugt wird. Mit deutlich besserer Raumakustik ließen sich schlecht genutzte Räume durch anspruchsvolle Veranstaltungen neu beleben.

Zur Wahrnehmung von Akustik
Die Hörsamkeit eines Raums nimmt der Mensch auf drei sehr verschiedenen Ebenen wahr:
> [1] ästhetisch als die jeweilige Architektur darstellend: Beim Betreten einer großen gotischen Kathedrale erwartet er z.B. einen gewaltigen Nachhall als Ausdruck erhabener, göttlicher Kraft. Der Raum kann z.B. mit einem geistlichen Gesang wohltuend mitschwingen.
> [2] ergonomisch als die Kommunikation in Arbeits- oder Freizeitbereichen fördernd oder behindernd: Der längere Aufenthalt z.B. in Orchestergräben und -probesälen kann zu einer Tortur werden, wenn der Raum akustisch schlecht konditioniert wurde; (1) nennen wir diesen Punkt die „Pflicht-Disziplin“ der Raumakustik.
> [3] funktional in Bezug darauf, wie gut die Schallwellen einzelner Stimmen oder größerer Ensembles untereinander oder zu einem Auditorium übertragen werden: In Vortrags-, Theater-, Oper- oder Konzertumgebungen müssen störende „Echos“, lästige „stehende Wellen“, vor allem aber das „mulmige Dröhnen“ im Tiefton-Bereich unterdrückt werden. Dies sei als „Kür-Disziplin“ bezeichnet.
In der „Pflicht“- wie in der „Kür“-Disziplin der Raumakustik spielt der Nachhall eine zentrale Rolle. Hier soll an einem prominenten Beispiel aufgezeigt werden, welche Frequenz-Charakteristik von geschulten Nutzern funktional zum Darbieten, Aufnehmen und Hören von Musik und Sprache als besonders förderlich beurteilt wird.
Orchestermusiker wissen viel besser als ihre Zuhörer und – dank ihrer im Ensemblespiel besonders geschulten Ohren – auch kompetenter als einzelne Redner, Sänger und Solisten, wie die jeweilige Umgebung ihre Bemühungen unterstützt oder erschwert. Auch Tonmeister merken rasch, wie gut ein Raum funktioniert. (2) Weil aber Profis sich selten laut über die Akustik einer Spielstätte äußern, bilden mehr oder weniger kompetente Äußerungen honoriger Gäste nach seiner Eröffnung die oft nachhaltige Einschätzung eines Auditoriums.
Bei jeder subjektiven Beurteilung spielen aber der optisch dominierte Gesamteindruck des Bauwerks sowie der sehr zweifelhafte und unzuverlässige Vergleich mit irgendwie im Gedächtnis haftenden Vorbildern eine entscheidende Rolle. Offenbar existiert noch kein allgemein anerkanntes objektives Kriterium für gute Raumakustik. (3) Stattdessen meinen nicht wenige, dass gute Raumakustik Glücksache, voller Geheimnisse und kaum berechenbar sei. Muss ein negatives Urteil einmal nachträglich ins Positive gewendet werden, wird gemutmaßt, dass sich die Akteure auf der Bühne oder gar die Baumaterialien im Saal aufeinander „eingespielt“ hätten. Wenn grobe raumakustische Mängel mit Nachdruck beanstandet werden, beschränken sich Besserungsversuche meistens auf Schall lenkende Maßnahmen. Viel zu wenig wird dagegen auf die richtige Bedämpfung des Raums geachtet, die erst die Voraussetzung für ein funktional befriedigendes Ergebnis schafft. (4)
Mit der Festlegung einer der Raumgröße angepassten Nachhallzeit Tsoll bei mittleren Frequenzen nach Abbildung 1 ist noch nichts gewonnen. In der DIN 18041-2004/„Hörsamkeit in kleinen bis mittelgroßen Räumen“ wird zwar auch ein Toleranzband für die Frequenz-Charakteristik bis 63 Hz herunter spezifiziert. Nach Abbildung 2 könnte man aber eine von den höchsten zu den tiefsten Frequenzen monoton ansteigende Nachhallzeit, wie sie leider in so vielen historischen und modernen Darbietungs- und Versammlungsräumen anzutreffen ist, für Musik geradezu als erstrebenswert, mindestens aber für normgerecht halten. Manche Solisten meinen auch, von einem sonoren Nachhall des Raums für ihre Stimme irgendwie profitieren zu können. Aber alle Kompositionen mit vielschichtiger Stimmführung und großer instrumentaler Besetzung werden eindeutig besser durchhörbar und von den Musikern deshalb leichter zum Klingen gebracht, wenn man dem Raum keinen großen Einfluss auf die Halt gebenden Basslinien gestattet. So kann auch der im Melodieton-Bereich wichtige Nachhall bei höheren Frequenzen für das gesamte Klangerlebnis viel besser zur Geltung kommen. Wenn der Raum die Tiefen stärker als die Höhen reflektiert und nachhallen lässt, entsteht dagegen eine die Basslinien unnatürlich verfälschende „Raumfüllung“.

Akustisch herausragend: die Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem
Nirgendwo variieren die raumakustischen Eigenschaften stärker als in den Kirchen verschiedener Epochen und Baustile. Waren diese früher hauptsächlich den Gottesdiensten geweiht, so stellen sie heute oft regelrechte Mehrzweckräume dar. Hier sei dahingestellt, ob es Sinn macht, Werke mit Solisten, großem Chor und Orchester in einem romanischen Dom aufzuführen, auch wenn sich Tausende Zuhörer auf der zu Beginn angesprochenen Wahrnehmungsebene [1] von den geradezu überwältigenden Klangmassen oft sehr beeindruckt zeigen. Vielmehr soll hier die Herausforderung angenommen werden, auch und gerade in Kirchenräumen auf der Wahrnehmungsebene [3]
> jedes gesprochene Wort auch ohne elektro-akustische Unterstützung überall im Raum verstehen zu können,
> beim Musizieren in kleinen oder größeren Ensembles die einzelnen Stimmen oder Gruppen für jeden Spieler, Sänger und Dirigenten klar durchhörbar zu machen,
> sowohl das Spiel der Orgel als auch eines großen Orchesters mit Chor und Solisten in allen Feinheiten der Partitur zu allen Akteuren und Zuhörern zu übertragen.
Es versteht sich von selbst, dass in einem solchen vielfältig nutzbaren Raum auch ein Aufnahmeteam kein Problem hat, das Dargebotene aufzuzeichnen, zu speichern oder live zu senden, ohne – wie bei untauglicher Akustik – gezwungen zu sein, mit einer Vielzahl von Mikrofonen fast jede Stimme einzeln aufzunehmen und damit anschließend im Studio das Werk, in Abstimmung mit dem Dirigenten und Produzenten, klanglich neu zusammenzusetzen.
Die 1931 fertig gestellte Jesus-Christus-Kirche in Berlin-Dahlem (JCK) mit ihrem bis zu 22 Meter hohen Steildach und maximal 38 Metern in der Länge sowie 23 Metern in der Breite (Abb. 3) mit einer Grundfläche von ca. 680 Quadratmetern wies ursprünglich ein Volumen von ca. 8400 Kubikmetern auf. (5) Nach damaliger und noch heute vorherrschender Lehrmeinung sollte sie gemäß Abbildung 1 bei mittleren Frequenzen eine Nachhallzeit von 1,3 Sekunden (für Sprache) bzw. 1,8 Sekunden (für Musik) aufweisen. Wenn man die für Frequenzen zwischen 500 und 1000 Hz stark reflektierenden Boden-, Stirn- und Seitenflächen (ca. 2000 Quadratmeter) mit einem mittleren Absorptionsgrad von ungefähr 0,05 und die übrigen Flächen (ca. 1000 Quadratmeter) des Daches, der Fenster, der „Koffer“ über den Seitenschiffen, der Empore, der Orgel und des seit jeher ungepolsterten Gestühls mit etwa 0,1 ansetzt, so musste man mit einer Absorptionsfläche im Raum von insgesamt ca. 270 Quadratmetern eine Nachhallzeit von fast fünf Sekunden in diesem allgemein für besonders wichtig erachteten Frequenzbereich erwarten. Auch mit 300 bzw. 500 Personen, die kaum mehr als 120 bzw. 200 Quadratmeter Absorptionsfläche zusätzlich hereintrügen, käme man allenfalls auf 3,5 bzw. 3 Sekunden.
Man kann daher gut verstehen, dass sich der Verantwortliche im Jahr 1930 „immer mit äußerst großen Bedenken mit dem raumakustischen Zustand der Kirche“ befasst hat: „Die durchgeführte Berechnung hat ergeben, dass der Raum für rednerische und sogar auch für musikalische Zwecke zunächst völlig unbrauchbar sein wird. Der Kubikinhalt möchte möglichst verkleinert werden, am einfachsten durch starkes Senken der Decke …, da das Volumen des Kirchenraums im Verhältnis zur Sitzplatzzahl in einem ungünstigen Verhältnis steht.“ Entgegen diesen Befürchtungen waren aber alle Verantwortlichen und Nutzer sofort von der Akustik der neuen Kirche begeistert. Man würdigt schon 1932 das Ergebnis mit Worten wie „Infolge der reich gegliederten, zum Teil offenen Lamellendecke mit dahinter liegendem Hohlraum ist die Hörsamkeit eine sehr gute. Zum Beispiel kann auf einen Schalldeckel über der Kanzel verzichtet werden.“ Die aus Vorsicht in eine Saalecke verbannte Kanzel wurde aber erst 1990 neben den Altar verlegt (Abb. 4) – ohne jeden Verlust an Sprachverständlichkeit.
Im Krieg wurde nur das Dach etwas beschädigt und alle Glasfenster wurden zerstört. Ab 1949 trennte man zunächst den Raum unter der Empore als „Winterkirche“ ab, deckte das Dach von außen neu und verschloss die Fenster notdürftig. Um diese Zeit war die Musikabteilung des Rundfunks im Amerikanischen Sektor auf der Suche nach einem geeigneten Aufnahme-Saal für das frisch gegründete RIAS-Symphonie-Orchester. Der schon beim Reichsrundfunk tätige Tonmeister Heinz Opitz machte auf die JCK aufmerksam. Mit ihm zusammen war Peter K. Burkowitz jahrelang dort mit RIAS-Aufnahmen tätig.
Bald darauf „entdeckten“ auch die Berliner Philharmoniker mit Wilhelm Furtwängler diesen Raum mit seiner überragend guten Akustik. Auch die ersten Aufnahmen der Deutschen Grammophon verliefen überaus positiv. Danach folgten weltweit beachtete Aufnahmen unter Herbert von Karajan, Claudio Abbado, Simon Rattle und anderen. Aber auch gefeierte Solisten wissen den Raum für Konzerte wie für Aufnahmen zu schätzen. Inzwischen ist er so gefragt, dass er nur noch zeitweilig für seine ursprüngliche Bestimmung von einem Tonstudio (Abb. 5) in ein Gotteshaus zurückverwandelt wird. Dessen Organistin, Renate Wirth, schwärmt von ihrem Instrument, das die Firma Hammer 1970 gebaut hat: „Ihr besonderer Charakter, zusammen mit der guten Akustik, ist das genaue Pendant zur Wortkirche, denn sie klingt so, wie es die gesprochenen Worte immer mindestens anstreben: hell und klar. Andere Orgeln in anderen Kirchen mögen ihren Reiz in einem vielleicht romantischen, weichen, durch langen Nachhall verschwommenen Klang haben. Unsere aber beeindruckt die Hörer nicht durch erschütternde Klangmassen, sondern verschafft ihnen Durchblick, erreicht nicht nur ihre Herzen und Gemüter, sondern auch ihre Köpfe, ermöglicht ihnen, Linien zu verfolgen, macht die Musik durchsichtig.“
Aber erst nach der „Vereinnahmung“ dieses auf 7900 Kubikmeter etwas verkleinerten Kirchenraums durch die Musikschaffenden wurden überhaupt einige Schallmessungen durchgeführt. Die jüngsten in Abbildung 6 zeigen eine Nachhallzeit von maximal drei Sekunden um 1 kHz im unbesetzten Raum ohne Gestühl. Selbst in einem mit einigen Musikern besetzten Zustand weist er in diesem Frequenzbereich Nachhallzeiten weit über den von DIN 18041 empfohlenen auf. Es sei aber an dieser Stelle betont, dass die positive Einschätzung der Akustik dieses Raums durch Musiker und Auditorium unabhängig von der jeweiligen Besetzung gilt.
Wenn man für alle übrigen Begrenzungsflächen und das Gestühl wieder die oben abgeschätzten Absorptionsgrade annimmt, ergibt sich aus einer Nachhallzeit von unter drei Sekunden für die Dachschrägen ein Absorptionsgrad größer als 0,6 bei 1 kHz. Zu tieferen Frequenzen steigt er sogar bis auf über 0,9 an, wenn man um 100 Hz für die „schallharten“ Flächen weiterhin 0,05 und für alle anderen mit Holz oder Glas besetzten Flächen einen Absorptionsgrad von 0,25 ansetzt. Diese außerordentlich hoch und breitbandig ermittelte Absorption ist nach eingehender Inspektion des Dachs dadurch zu erklären, dass durch die Schlitze in der inneren Holzverschalung offenbar ein riesiger Hohlraum zwischen den beiden Dachschalen angekoppelt ist. Selbst wenn der Kirchenraum und auch die Empore mit 1000 Besuchern voll besetzt wären, würde sich eine von ca. 1,5 Sekunden bei 1 kHz zu tieferen Frequenzen immer noch sanft abfallende Nachhallzeit einstellen. (6)
Auch in viel älteren Kirchen von großer musikhistorischer Bedeutung, die in ganz anderem Baustil errichtet wurden, hat man übrigens Nachhallspektren vorgefunden, die denen in Abbildung 6 sehr ähnlich sehen: in der Bachkirche in Arnstadt (Abb. 7) und in der Thomaskirche in Leipzig vor ihrer jüngsten Restaurierung. Erwähnenswert ist auch, dass es genau diese Nachhall-Charakteristik war, die die Planer des DDR-Rundfunkzentrums in Berlin-Oberschöneweide veranlasst hat, Mitte der 1950er Jahre die Akustik des dortigen großen Sendesaals 1 nach dem raumakustischen Vorbild der JCK einzurichten. Nach Jürgen Meyer (7) war das Maximum des Nachhalls um 1000 Hz in der JCK auch der Grund für Herbert von Karajans Wunsch, dass auch die Philharmonie in Berlin in diesem Frequenzbereich eine Anhebung aufweisen sollte, die dort allerdings viel schwächer ausfiel.

Schlussfolgerungen
Ob es nun Absicht oder Zufall war, dass Kirchen in raumakustisch unbestritten herausragenden Beispielen einen zu den Tiefen abfallenden Nachhall aufweisen: (8) Der von vielen propagierte und nach Abbildung 1 für Musik sogar anzustrebende Anstieg der Nachhallzeit bei Frequenzen unter 250 Hz ist zwar in späteren Bauwerken fast zum Regelfall geworden, an den man sich inzwischen wohl auch allgemein gewöhnt hat – ein Optimum stellt er aber keinesfalls dar, weder funktional noch ergonomisch. Deshalb erscheint eine Klärung der von so vielen namhaften Nutzern für Sprache und Musik gleichermaßen gerühmten Akustik der Jesus-Christus-Kirche wichtig: Das Nachhallzeit-Spektrum schafft offenbar eine zentrale Voraussetzung für eine „perfekte“ Akustik, und zwar gleichermaßen für Musik und Sprache. Die hier dargestellten Erkenntnisse sollten aber nicht nur die mit anspruchsvollen Aufnahmen beauftragten Instanzen „verinnerlichen“. Sie sollten auch Orchestermusiker ermuntern, sich für ihre anspruchsvolle, oft genug ihr Gehör schädigende Arbeit in Räumen zum Darbieten, Aufnehmen, aber auch zum Proben, Einspielen und Unterrichten nicht jede Akustik gefallen zu lassen, sondern darauf zu dringen, dass in den zahllosen schlecht konditionierten Räumen endlich etwas zur Erleichterung ihrer Arbeit und zur Verbesserung ihrer „Performance“ getan wird. <
1 Helmut V. Fuchs: „Die neue EU-Richtlinie ,Lärm‘ und der Schallschutz für Musiker“, in: Lärmbekämpfung, 6/07, S. 217-224.
2 Peter K. Burkowitz/Helmut V. Fuchs: „Das vernachlässigte Bass-Fundament – Zur Behandlung der tiefen Frequenzen beim Darbieten, Aufnehmen und Wiedergeben von Sprache und Musik“, in: VDT-Magazin, 2/09, S. 35-41.
3 Ingo B. Witew: „Zur subjektiven Bewertung der Akustik in Konzertsälen: Gibt es die perfekte Akustik?“, in: VDT-Magazin, 1/06, S. 19-23.
4 Helmut V. Fuchs: „Raumakustische Gestaltung von Umgebungen zum Darbieten, Aufnehmen und Wiedergeben von Sprache und Musik“, in: Bauphysik, 6/07, S. 398-406.
5 Helmut V. Fuchs/Peter K. Burkowitz: „Gute Raumakustik – nur ein Zufall?“, in: gi Gesundheits-Ingenieur, 1/09, S. 16-25.
6 ebd.
7 Jürgen Meyer: Kirchenakustik, Frankfurt am Main 2003.
8 ebd.