Turnage, Mark-Anthony

Two Vocalises

für Cello und Klavier, Partitur und Stimme

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2005
erschienen in: das Orchester 01/2006 , Seite 78

Seine Komposition Blood on the Floor – in Auftrag gegeben und uraufgeführt durch das Ensemble Modern – sorgte Mitte der 90er Jahre hierzulande für Aufsehen, doch in seiner britischen Heimat galt der 1960 geborene Mark-Anthony Turnage bereits seit der Premiere der Night Dances 1981 als eines der außergewöhnlichsten Talente unter den jungen Komponisten. Nach Studien bei Oliver Knussen und John Lambert in London sowie Gunther Schuller in Tanglewood ermunterte Hans Werner Henze den jungen Kollegen zur Komposition eines Bühnenwerks. So entstand Greek und mit dem Erfolg des Werks begann Turnages beeindruckende Karriere. In den Folgejahren arbeitete er mit der English National Opera, dem City of Birmingham Symphony Orchestra und der BBC zusammen und schrieb für diese Auftraggeber Werke wie Three Screaming Popes, Momentum oder Drowned out, die zu seinen wichtigsten Arbeiten zählen.
„Weg von Darmstadt!“, eine Devise, der Turnage in seiner Musik folgt und die in ihrer Ablehnung der ehedem tonangebenden Neuen Musik nach Darmstädter Prägung (Stockhausen, Boulez, Nono) nicht allein eine signifikante Tendenz der 80er und 90er Jahre widerspiegelt, sondern – mit aller Vorsicht – als „typisch angelsächsisch“ bezeichnet werden mag: Komponisten wie der Amerikaner Steve Mackey oder der skurrile Brite Django Bates beziehen sich dezidiert auf Jazz, Funk und Pop als Triebfedern ihrer Musik und überwinden damit Grenzen, die in Zentraleuropa von den Gralshütern der Avantgarde noch lange aufrechterhalten wurden.
Jazz ist eine Grundkonstante in Turnages Musik, die vom extremen Kontrast düster-aggressiver – häufig mit sozialen oder politischen Botschaften verknüpfter – und poetisch-leiser Töne geprägt ist. Zur letzteren Kategorie gehören die Two Vocalises, die im Jahr 2001 ihre Uraufführung in einer Amsterdamer Synagoge erlebten. Man geht kaum fehl, beide Vokalisen als textlose Klagegesänge anzusehen. Neben verschleierten Blues-Anklängen meint man, gleichsam aus dem Inneren der Musik die Stimme des jüdischen Kantors zu hören, wiewohl Turnage durchaus nicht auf direkte Anklänge an synagogale Musik abzielt. Das erste der beiden Stücke – MacLaren’s Farewell – beginnt und schließt mit verfremdeten Fanfarenklängen. Im Mittelteil – „slow and sad“ – erklingt ein schmerzvoller Gesang.
Das zweite Stück – „very expressive“ – basiert auf synkopierenden Grundrhythmen, die sich verbinden mit gesanglicher Linienführung und einem transparenten Satzbild. Nennenswerte technische Anforderungen werden nirgends gestellt, die beiden Vokalisen sind vielmehr – gemessen an Erwartungshaltungen, die sich angesichts Neuer Musik nolens volens einstellen – in jeder Hinsicht „verblüffend“ einfach. Dass es einem Komponisten des 21. Jahrhunderts gelingt, mit wenigen Pinselstrichen und in derart schlichter Faktur spannende Musik zu schreiben, ist keineswegs selbstverständlich. Turnage kann es!
Gerhard Anders