Ysaye, Eugène

Trio “Le Londres”

für 2 Violinen und Viola, Partitur und Stimmen, Nandor Szederkenyi (Hg.)

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott Frères, Brüssel/Mainz 2009
erschienen in: das Orchester 03/2010 , Seite 66

Eugène Ysaÿe teilt, wie so viele Komponisten, das Schicksal, im heutigen Konzertleben auf nur ein einziges bekanntes Werk reduziert zu werden – in seinem Fall den Zyklus von sechs hochvirtuosen Solosonaten für Violine, die gerade einmal noch von Geigern als Zugaben im Gedächtnis der musikalischen Öffentlichkeit gehalten werden. Das weitgehende Vergessen mag bei Ysaÿe auch daran liegen, dass er – Niccolò Paganini gleich – als bekanntester Violinvirtuose seiner Zeit vor allem für sein eigenes Instrument komponiert hat; und das noch dazu fast ausschließlich in höchsten Schwierigkeitsgraden.
Neben den bereits genannten Solosonaten schrieb Eugène Ysaÿe einige Werke für Violine und Orchester und ein paar wenige Stücke für Violinduo. Auch das hier vorliegende Trio wurde von ihm ursprünglich für zwei Violinen komponiert, war für seine Geigenschülerin, die belgische Königin Elisabeth, aber zu schwer. Ysaÿe arbeitete das Duo daraufhin kurzerhand zum Trio um, indem er als dritte Stimme eine Bratsche einfügte. Einfach zu spielen ist das Werk in der Triofassung dennoch nicht – für alle drei Stimmen ist nach wie vor eine ausgezeichnete Beherrschung der Instrumente und eine große Portion Virtuosität von Nöten. Unterstrichen wird diese Virtuosität nicht nur von den zahlreichen Läufen, Doppelgriffen und Verzierungen der Stimmen, sondern auch vom Klangbild, das die drei hohen Instrumente entwerfen. Zwar bleibt die Führungsrolle der ersten Violine über die drei Sätze hinweg fast unangetastet, jedoch entwickelt sich im Verlauf ein musikalisches Miteinander, das man eher mit einem Konzert für drei Soloinstrumente als einem Streichtrio verbinden mag. Und durch den fehlenden Bass wird das Ohr des Zuhörers ganz auf die kunstvolle Führung der beiden Geigen und der Bratsche konzentriert.
Um das nach dem Ort seiner Uraufführung im Jahr 1916 Le Londres genannte Trio in der aktuellen Druckfassung vorlegen zu können, musste der Herausgeber Nandor Szederkenyi einige Rekonstruktionsarbeit leisten. Zwar wurde das Werk bereits einmal gedruckt, jedoch ging die Druckvorlage in größeren Teilen verloren. Und auch die in der Juilliard School Library in den USA im Manuskript vorhandenen Stimmen wiesen einige Inkonsistenzen auf, sodass Szederkenyi sich bei seiner Neuausgabe auch auf das Duo-Original der Sonate von Eugène Ysaÿe stützen musste. Die parallele Veröffentlichung von Partitur und Stimmen bietet im vorliegenden Fall in Zusammenhang mit der Rekonstruktionsarbeit noch einen ganz eigenen Vorteil: Während die Partitur den “Originaltext” des Trios enthält, geben die Stimmen die Einzeichnungen in den oben erwähnten Manuskripten wieder. Die so übertragenen, zahlreichen Ausführungshinweise werden den Interpreten ein guter Leitfaden bei der Interpretation dieses virtuosen Kammerstücks und der Ausbalancierung der drei Instrumente sein.
Daniel Knödler