Lachenmann, Helmut
Toccatina
Studie für Violine allein
Der 1935 in Stuttgart geborene Helmut Lachenmann gehört zu den führenden Persönlichkeiten der musikalischen Avantgarde. Lachenmann ist kein einfacher Fall, polarisierend wie wenige andere. Den einen ist er Leitfigur musikalischer Erneuerung, den anderen esoterischer Exot.
Einerseits geht es ihm immer wieder darum, die gewohnte Musizierpraxis zu sprengen, strebt er nach Brechung des bereits Vertrauten. Bedient habe ich nie. Ich bin kein Dienstleistungsunternehmen. Derlei Befriedigung wäre zugleich Betrug und Selbstbetrug. Andererseits verwahrt er sich leidenschaftlich gegen Missdeutungen, will nicht Galionsfigur der Freaks der Szene, Agent provocateur um des Provozierens willen sein. Es geht mir immer wieder auf andere Weise um dieselben Problemlösungen: Wie befreie ich die klingenden Momente von all diesen Besetztheiten? Wie mache ich die Möglichkeit von Freiheit im klingenden Ereignis bewusst?
Für die 1986 geschriebene Toccatina für Violine solo hat er eine völlig neue Spieltechnik erfunden. Ganz überwiegend werden die Saiten nicht gestrichen oder gezupft, sondern es wird mit der Spannschraube des aufgestellten Bogens auf die Saiten getupft. Verfeinert ist diese Technik durch raffinierte Klangeffekte wie Spannschraubenpizzicato oder ‑vibrato. Mit dem Bogen gestrichen werden darf auch, allerdings nicht auf den Saiten, sondern auf verschiedenen genau bezeichneten Stellen der Oberfläche des Instruments: der Schnecke, dem rechten hinteren Wirbel usw., des Weiteren gibt es noch eine besondere legno-Wischbewegung und manches andere mehr. Wie diese Techniken genau auszuführen sind, ist in der Zeichenerklärung detailliert beschrieben.
Man sieht schon, hier ist gar nichts wie sonst, nahezu die gesamte traditionelle Violintechnik wird auf den Kopf gestellt, komplett nutzlos. Allein die Fixierung der Tonhöhen auf den Saiten mit der rechten Hand anstelle der linken, der normalen Greifhand, dazu noch mit der Spannschraube, also ohne direkten Kontakt der Finger zur Saite, bereitet unendliche Mühe, macht das Lernen dieser Toccatina zu einer sehr zeitaufwändigen Angelegenheit. Lassen wir uns davon nicht abschrecken und unterziehen uns wenigstens gedanklich einmal der Mühe. Was ist das klangliche Resultat?
Ich muss zugeben, dass ich mich einer gewissen Ratlosigkeit und Skepsis nicht erwehren kann. So interessant die implizierten Techniken der Idee nach sein mögen: Das klangliche Ergebnis eines Spannschraubentupfers ist ein dünnes, metallisches, kurzes Fiepsen, das Geräusch des Streichens auf dem Wirbelkasten oder einem der Wirbel schon auf zwei Meter Entfernung kaum mehr hörbar. Eine Aufführung in jeglicher Art von Saal dürfte ohne Mikrofonverstärkung ausgeschlossen sein. Am Instrument wären unbesponnene Stahlsaiten aufzuziehen, denn die Tupfer mit der Metall-Spannschraube würden jedes andere Material, seien es synthetische oder Darmsaiten, in Kürze ruinieren. Aber lassen wir die Bedenkenträgerei: Der Toccatina wäre zu wünschen, es mögen sich genug Mitglieder der geigerischen Zunft finden, die sich mit Idealismus ihrer annehmen, der schöpferischen Originalität eines großen Geistes wegen.
Herwig Zack