Jon Lord
To Notice Such Things
Suite für Flöte solo, Klavier und Streichorchester, Klavierauszug, hg. von Paul Mann, Partitur und Stimme
Was tun Sie, wenn Sie abends noch einmal spazieren gehen? Zielgerichtet und schnell im Stechschritt losmarschieren und den an der Leine ziehenden Hund zur nächsten Laterne geleiten, oder lassen Sie sich hinreißen, zuerst an Nachbars aufgeblühter Kletterrose zu schnuppern, dem Abendgesang der Vögel im Sonnenuntergang zu lauschen und mal hierhin, mal dorthin zu flanieren Augen und Ohren weit offen für all die Geheimnisse, die die Dämmerung preis gibt? Lassen Sie den Hund zu Hause und lassen Sie das geistige Mäandern zu: Jon Lord zielt in seiner sechsteiligen Suite für Flöte solo, Klavier und Streichorchester hochvirtuos und fein facettiert auf die Sinne. Programmatische Übertitelungen stellen schnell die Weichen für interpretatorische Grundlinien im teils wehmütigen, teils geradezu übermütigen musikalischen Charakterisieren des dem Komponisten teuren Freundes John Mortimer, in dessen Gedenken die Suite 2010 komponiert wurde. Die Solo-Flöte soll hierbei die Aufgabe haben, für John zu ‚sprechen: Sein Lachen und seine Seufzer, seine Wehmut und gelegentlich milde Übellaunigkeit, seine Verspieltheit, ebenso die Pein und schließlich Akzeptanz seiner letzten Tage.
Mit As I Walked Out One Evening eröffnet das Gründungsmitglied von Deep Purple seinen sehr lautmalerischen, fantasievollen Reigen um den facettenreichen Charakter des großen Künstlers und entfaltet sogleich eine durch alle Sätze schillernde Klangtapete, die durch zahlreiche Taktwechsel, chromatische Passagen im ansonsten tonal gebundenen Gefüge, motorisch durch reizvolle Akzentverschiebungen mal mit feinem Pinselstrich, mal kraftvoll zupackend changiert und dem Flötisten ein nicht geringes Maß an Technik und Nervenstärke abverlangt.
Im Kontrast zu den spritzig bewegten Sätzen stehen langsame Sätze wie The Winter of a Dormouse (sehr ausdrucksvoll, voller Dramatik und Schmerz mit beredter Kadenz) oder das schwebende 3. Stück Turville Heath. Die sehr wirkungsvollen, fast an Filmmusik gemahnenden Stücke geben der Flötistin viel Spielraum, der in der Originalfassung klanglich noch wirkungsvoller durch Klavier und Streichorchester eröffnet wird. In der vorliegenden Klavierauszugfassung werden die beiden Künstler sehr eng miteinander arbeiten müssen; vielleicht übernimmt die Flöte auch Aspekte aus dem Klavierpart, der den Pianisten im reduzierten Auszug vor nicht geringe spieltechnische Probleme stellen wird.
Vom letzten Satz (Afterwards) gibt es neben der rein instrumentalen noch eine Version mit Sprecher und Klavier; hier handelt es sich eigentlich um ein kleines Melodram. Obgleich die Textpassagen in hohem Maß persönlich auf Mortimer zugeschnitten sind, kann doch für fern Stehende eine interessante Abstraktion erreicht werden, da durchaus allgemeingültige Überlegungen im ewigen Kreis um Leben und Tod auf der Metaebene eine Rolle spielen.
Die 2009 uraufgeführte Suite ist mit einer Spieldauer von etwa einer halben Stunde eine große Bereicherung für jedes programmatisch konzipierte Konzert.
Christina Humenberger