Enjott Schneider

Time Travels – Zeitreisen. From Siddharta, Marco Polo to Bach & Byrd

Wu Wei (Sheng), Christoph Enzel (Saxofon), Reinhold Friedrich (Piccolotrompete), Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz, Ltg. Gabriel Venzago

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Solo Musica
erschienen in: das Orchester 6/2024 , Seite 71

Ein Takt, maximal zwei – und schon sehe ich die sagenumwobe Stadt Samarkand vor mir aus der usbekischen Steppe ragen, so wie einst Marco Polo auf seiner Asienreise sie gesehen haben muss. Enjott Schneiders programmatische Suite Silk Road – Marco Polo goes East fängt die Hörer direkt ein, entführt sie in die schillernde Welt des Ostens, überbrückt Raum und Zeit. Und so wollte es auch Schneider, er beschwört im Vorwort dieser Aufnahme die magische Fähigkeit der Musik, ein vitales Jetzt erzeugen und deshalb auch Vergangenes in der Gegenwart wieder auferstehen lassen zu können. In sechs Abschnitten folgen wir Marco Polo auf der Reise die alte Seidenstraße entlang, treffen auf Kublai Khan und erobern China. Natürlich zaubert Wu Wei auf der Sheng, dieser traditionellen chinesischen Mundtrommel, ein fernöstliches Kolorit in die Musik; aber das ist es nicht allein. Schneider strapaziert keine Klischees, weder in überzogener Pentatonik noch im plakativen Gebrauch der Instrumente. Er bleibt im Hier und Jetzt verankert. Und so passt der Titel Time Travels – Zeitreisen auf mehr als nur eine Weise: Sicherlich ging es Schneider auch um eine musikalische Rückreise in die Zeit; nicht allein durch seine Hommage an die berühmteste Asien-Reise der Geschichte oder an Johann Sebastian Bachs zweites Brandenburgisches Konzert in Brandenburger Remixed und William Byrds The Bells, selbst an das 100-Jahr-Jubiläum von Hermann Hesses Roman Siddharta erinnert er.
Doch Zeit hat für Enjott Schneider, dessen Leidenschaft unüberhörbar der Filmmusik gilt, mehr als nur eine Facette; es ist nicht allein das Gestalten in der Zeit, das in reizt, er formt, ja er erschafft geradezu „Zeit“ neu. So blickt er auf Bachs von der Trompete beherrschtes Konzert aus der Jetzt-Zeit, quasi durch einen Zeit-Tunnel. Er übersetzt Bach ins Heute: Pointierte Rhythmik, farbige Harmonik greifen Bachs Tonsprache auf, aber führen sie weiter und zeigen, was in den drei Jahrhunderten seit ihrer Entstehung an Möglichkeiten in der Musik dazu gekommen ist. Eine treffliche Verbeugung vor dieser Musik, Bach hätte seine Freude daran gehabt. Ganz anders Siddharta. Hier bleibt die Zeit stehen! Großflächige bunte Klangflächen geben den Saxofon-Kantilenen Stütze, sich schwerelos zu entwickeln. Das Zeitgefühl verlangsamt sich zusehends. Als Hörer verfängt man sich in diesem Klangkosmos, der halt- und zeitlos zu schweben scheint.
Time Travels ist für mich die dichteste Schau auf Enjott Schneiders Kosmos. Und mit der Südwestdeutschen Kammerphilharmonie Konstanz und ihrem Chefdirigenten Gabriel Venzago hat Schneider auch ein Ensemble gefunden, das sich kompromisslos auf ihn einlässt.
Markus Roschinski