Mertens, Volker

Thomas Mann und die Musik

Groß ist das Geheimnis, mit CD

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Militzke, Leipzig 2006
erschienen in: das Orchester 10/2006 , Seite 92

In seinem Aufsatz „Einkehr“ schrieb Thomas Mann: „Was ich vom Haushalt der Mittel, von der Wirkung überhaupt […], vom epischen Geist, von Anfängen und Enden, vom Stil als einer geheimen Anpassung des Persönlichen an das Sachliche, der Symbolbildung, von der organischen Geschlossenheit der Einzel-, der Lebenseinheit des Gesamtwerkes, – was ich von all dem weiß und zu üben und auszubilden in meinen Grenzen versucht habe, ich verdanke es der Hingabe an diese Kunst.“ Diese Kunst war die Musik. Groß ist das Geheimnis der Musik, sagte Thomas Mann, und groß ist auch das Thema, das sich Volker Mertens gewählt hat. Der Autor, Jahrgang 1937, lehrt Literatur an der Berliner FU und gilt als Kenner Richard Wagners.
Über Thomas Mann und die Musik wurde schon viel geschrieben; den Anfang machte der österreichische Schriftsteller Richard Schaukal im Jahr 1904, als Mann erst 28 Jahre alt war. Doch die Buddenbrooks gab es ja bereits, und die Musik hat auch in diesem Roman eine bedeutende Funktion. Das Thema „Thomas Mann und die Musik“ springt jeden an, sei er vom Fach oder nicht. Denn wer seine Erzählungen und Romane liest, merkt schnell, dass die Musik als Mittel und als Zweck in Leben und Kunst des Schriftstellers eine Schlüsselrolle besetzte.
Das vorliegende Buch ist die Printfassung einer Reihe von Radiofeatures, von denen die mitgelieferte CD mit Aufnahmen, die Thomas Mann „nachweislich besessen“ hat, noch ein akustisches Element rettet. Eine weitere Radio-Erbschaft liegt in der leichten Lesbarkeit, dem publikumswirksamen Aufhänger jedes Abschnitts und der relativen Geschlossenheit aller einzelnen der insgeamt 25 Kapitel.
Mertens hat ein materialreiches und anregendes Lesebuch geschrieben. Man erfährt alles über Thomas Mann in der Oper, seine Liebe und wieder erloschene Liebe zu Musikern – Wagner, Pfitzner, Strauss –, die Neigung zu nordischen Komponisten, die Distanz zu den mediterranen; die Reserviertheit gegenüber der Zweiten Wiener Schule; nur bei Alban Berg fand er, was ihn immer am tiefsten berührt hat: die Musik der Romantik.
Manns Verhältnis zu Richard Wagner wird aus guten Gründen besonders differenziert behandelt. Wagners Kunst war Inbegriff der ambivalenten deutschen Kultur, und die Antipoden Mann und Hitler sahen in Lohengrin und den Meistersingern denn auch ganz Unterschiedliches. Mertens widmet sich ausführlich Manns Essay über Leiden und Größe Richard Wagners von 1933, mit dem Wagner vor den Nazis gerettet werden sollte und der den Autor bei Politikern und den Münchner Musikern zur Persona non grata machte. Thomas Mann deutete die massiven Angriffe richtig und verließ Deutschland.
Was man vom Buch nicht erwarten sollte, ist eine immer streng den politischen, lebensgeschichtlichen und literarischen Kontext achtende Studie. Mit einer Ausnahme: Im Kapitel 22 gibt Mertens überzeugende Beispiele für Manns „musikalische Erzählkunst“. Anhand der Leitmotivik, der Nachbildung musikalischer Szenen und des Textbaus nach musikalischen Prinzipien werden schon vertraute Erzählungen und Romane auf frappierende Weise neu, weil transparant gemacht. Ein schön gedrucktes und bebildertes Lesebuch, das zum Weiterlesen und Musikhören anregt.
Kirsten Lindenau