Franz Schmidt

The Symphonies

BBC National Orchestra of Wales, Ltg. Jonathan Berman

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Accentus
erschienen in: das Orchester 6/2024 , Seite 70

Franz Schmidt (1874–1939) zählt zu den Komponist:innen, die durch ein Werk bekannt sind: Bei ihm ist es das Intermezzo aus der Oper Notre Dame. Nur selten findet sein Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln oder eine seiner Sinfonien Beachtung. Jonathan Berman hat sich nun anlässlich des 150. Geburtstags des aus Preßburg (Bratislava) stammenden Musikers seines Œuvres besonders angenommen, mit dem BBC National Orchestra of Wales alle vier Sinfonien eingespielt, ergänzt durch das Intermezzo und die Karnevalsmusik aus Notre Dame.
Der hochbegabte Schmidt kam nach Wien, wo er am Konservatorium Violoncello und Komposition sowie bei Bruckner Kontrapunkt studierte. Als Mitglied der Wiener Philharmoniker und Solocellist spielte er einige Jahre unter dem Dirigat von Gustav Mahler, wechselte aber 1914 als Klavierprofessor an die Wiener Musikakademie. Sein Werkkatalog ist nicht sehr umfangreich; jede der vier Sinfonien fällt in eine andere Lebensdekade. Dem Label Accentus Music ist mit der CD-Box ein Glücksgriff gelungen: Jonathan Berman rückt den zu Unrecht vergessenen Symphoniker wieder stärker ins Bewusstsein der Musikwelt.
Schon die erste Sinfonie, quasi aus dem Nichts heraus entstanden, zeigt einen großen Spätromantiker. Das „Schulstück“ knüpft zwar an Bruckner und Mahler an, geht aber eigene Wege: in perfekter Instrumentierung, ausgeklügelter Tonalität und großformaler Anlage. Jonathan Berman gelingt es, mit packenden Klängen, bei kultivierten Blechbläsern und kraftvoll auftrumpfenden Streichern, mit durchsichtigen Passagen im oft verwobenen Satz die Struktur bis zum genialen Finale klar zu konturieren. Brüche prallen hart aufeinander, Dissonanz-Schärfungen und Kontrapunktik werden klar herausgearbeitet. Mit opulenter Instrumentation scheint Schmidt in der zweiten Sinfonie Grenzen sprengen zu wollen. Der emotionale Bogen ist weit gespannt: vom Hymnischen zum Verinnerlichten, vom raffinierten Klangzauber zum Bombastischen, auch durch das Wechselspiel und Überblenden der Register. Der Dirigent disponiert klug und besticht durch äußerste Transparenz, aber auch durch leidenschaftlichen Zugriff wie blühendes Melos. Das fabelhaft aufspielende BBC National Orchestra of Wales umschifft die Klippen dieser Sinfonie meisterhaft – Orchesterkultur auf höchstem Niveau. Die dritte Sinfonie, wieder für einen Wettbewerb eingereicht, atmet tatsächlich, wie gefordert, den „Geist Schuberts“ und lebt von einem eher heiteren Charakter, trotz des abschließenden empathischen Klangrauschs. Unter dem Eindruck des Todes seiner Tochter entstand das „wahrhaftigste und innigste“ letzte Werk – ergreifend, mit einem geheimnisvollen Trompetensolo beginnend (und auch endend). Jonathan Berman zaubert eine kontemplative, fließende Musik mit oszillierender Harmonik, voller düsterer und dramatischer Klänge, mit einem ergreifenden Trauermarsch – Höhepunkt der verdienstvollen Edition.
Wolfgang Birtel