Brahms, Johannes

The Symphonies 1-4

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI 50999267254 2, 3 CDs
erschienen in: das Orchester 07-08/2010 , Seite 66

Lange zählte die Musik von Johannes Brahms nicht zu den besonderen Vorlieben von Sir Simon Rattle. Als der umtriebige Dirigent bei den Berliner Philharmonikern als Chefdirigent antrat, blieben die Brahms-Sinfonien, von je her Chefsache bei dem Eliteorchester aus der deutschen Hauptstadt, verwaist. Was Rattle schon von Beginn an ebenso Kritik einbrachte wie die Tatsache, dass auch das weitere klassisch-romantische Kernrepertoire des Ensembles von ihm nur zaghaft gepflegt wurde. Über die sinnvolle und notwendige Repertoire-Neuorientierung des Orchesters hinaus, die Rattle mit Vehemenz ansteuerte, drängte sich der Eindruck auf, dass Rattle Brahms bewusst auswich.
2008 hat Rattle nun mit seinen Berlinern einen Brahms-Zyklus in der Hauptstadt angesetzt, von dem inzwischen ein Mitschnitt erschienen ist. Wobei die nicht eben auf maximale Transparenz hin ausgelegte Aufnahme der EMI den warmen Klang der Berliner gut zur Geltung bringt. Dass es live mit den Berlinern auch transparenter geht, hat indes Nikolaus Harnoncourt mit seiner Liveaufnahme der Brahms-Sinfonien aus dem Jahr 1996/97 (Warner 2564-68866-9) eindrucksvoll unterstrichen.
Ein Bilderstürmer ist Rattle bei Brahms nicht. Er setzt auf farbenprächtiges, gelegentlich ausuferndes Orchesterspiel, kann sich nicht nur auf den warmen Klang der hervorragenden Streicher, sondern ebenso auf die ersten Holz- und Blechbläserpulte verlassen. Das Blech klingt auch im kraftvollen Forte nie verhärtet, weich mischen sich die Holzbläser mit dem Streicherfundament. Die von Rattle bekannte Detailgenauigkeit kommt auch bei den vier Brahms-Sinfonien zum Tragen.
Dennoch wirkt manches bei den Brahms-Sinfonien konzeptionell unausgewogen. Auch wenn der englische Dirigent über weite Strecken flüssig, bei schnellen Sätzen selten überzogen vorantreibend, bei den langsamen Larmoyanz vermeidend agiert, stören eher von Furtwängler gewohnte, bei Rattle aber weniger sinnfällig eingesetzte Tempostauchungen. Dass ein mit der historischen Aufführungspraxis so vertrauter Musiker wie Rattle, was auch seine Beethovensicht unterstreicht, bei Brahms diese Erkenntnisse negiert, erstaunt.
Die ungewohnte klangfarbliche Detailarbeit, die auch dank des fulminanten Musizierens des Orchesters zu erleben ist, steht so im Gegensatz zu einer uneinheitlichen Gesamtkonzeption. Die etwas distanziert wirkende c-Moll-Sinfonie erklingt so weit entfernt vom gewohnten Klischee einer Sinfonie in der dramatischen Beethovennachfolge. Bei der Zweiten steht ungetrübter Schönklang im Vordergrund, von der Melancholie von Brahms will Rattle offensichtlich nichts wissen. Auch die Dritte wird von ihm weitgehend von der Melodik her aufgefasst. Während der Kopfsatz der Vierten zu einem gigantischen Klangfluss wird, entfacht Rattle mit seinem Musikern im Finale einen virtuosen Taumel, der überwältigt.
Walter Schneckenburger