Hans Abrahamsen

The Snow Queen

Barbara Hannigan (Sopran), Rachael Wilson (Mezzosopran), Katarina Dalayman (Sopran), Peter Rose (Bass), Bayerisches Staatsorchester, Ltg. Cornelius Meister, Regie: And- reas Kriegenburg

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: Bayerische Staatsoper Recordings
erschienen in: das Orchester 6/2022 , Seite 81

Hans Abrahamsens symbolische Schneewelten tönen manchmal in C-Dur, manchmal in Reibungen ohne tonale Bezüge. Diese reich instrumentierte, oft leise, oft filigrane und immer luzide Partitur mit der bis weit ins 20. Jahrhundert zurückreichenden Genese wurde 2019 erst in Kopenhagen, dann als Weihnachtspremiere an der Bayerischen Staatsoper in englischer Sprache aufgeführt. Der Erfolg war fast so laut wie bei Hänsel und Gretel oder Der Nussknacker. Aber das von Abrahamsen mit Henrik Engelbrecht nach dem Märchen seines dänischen Landmanns Hans Christian Andersen entwickelte Libretto ist weitaus komplizierter. Der Wunschprojektionen in Fantastik verpackende Dichter schonte sich und seine Leser:innen nicht. Bei ihm ist der Weg zum (seltenen) Glück steinig und sogar dieses selbst fast immer grausam.
Das Bayerische Staatsorchester vollbringt unter Cornelius Meister eine großartige Leistung – umso mehr, weil prägnante Assoziationen wie die an Purcells Frostmusik selten sind. Kleine periodische Motive, rhythmische Fragmente und feinste Schlagwerkeffekte, die schon wieder melodisch werden, erklingen wie selbstvergessen. Im großen Raum des Münchner Nationaltheaters entstand eine eigenartig zeitentrückte Atmosphäre, welche die DVD-Aufzeichnung trotz größerer Nähe zur Bühne und zum Tongeschehen poetisch einzufangen vermag. Ein Wunder ist zudem, wie Abrahamsens vorsichtige und dann im Leisen sehr selbstbewusste Musik auch auf der DVD merkwürdig zwischen Zerbrechlichkeit und einer Kraft des Intimen bleibt.
Der Bühnenschnee rieselt leise auf die Gesichter des Chors, der Statisterie und der Solist:innen, unter ihnen die bewegende wie souveräne Barbara Hannigan in der zentralen Partie der Gerda, Peter Rose als massiv genderfluide und gar nicht kalt-böse Schneekönigin und Katarina Dalayman in mehreren Figuren als alte Frau mit erstaunlich altersloser Präsenz. Der von Stellario Fagone einstudierte Chor taucht und schwebt über den instrumentalen Schraffuren.
Regisseur Andreas Kriegenburg erzählt mit Doppelgängern, Analogien und Pantomimen eine die Dimensionen eines ganzen Menschenlebens umfassende Geschichte. Sie beginnt mit der Entfremdung Kays, der sich mental verabschiedet, und Gerdas. Der stumme, sensible Thomas Gräßle stiehlt Rachael Wilson, der Sängerin des Kay, fast die Schau. Gerdas Wanderung endet nach mehreren poetischen Episoden auf einer Demenz-Station und damit im Glück des Vergessens.
Diese poetische Zerreißprobe auf der weitgehend leeren und von Harald B. Thor mit polyvalenten Erinnerungsgewichten gefüllten Bühne überfrachten weder das Drama noch die musikalische Dimen-
sion. Abrahamsens Musik hat eine gewaltige Binnenspannung, welche vom Ensemble hervorragend intensiv verdichtet wird. Auch die DVD gerät weniger zum Weihnachts- als zum schmerzhaften Wintermärchen. Ganz im Sinne Andersens.
Roland Dippel