Bryars, Gavin

The Sinking of the Titanic

Version for string quartet and pre-recorded material

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, London 2013
erschienen in: das Orchester 10/2013 , Seite 70

Nach Philosophiestudium an der University of Sheffield sowie instrumentaler Ausbildung wirkte der 1943 geborene Bryars zunächst als Bassist, besonders im Bereich des Modern Jazz. In Improvisationsgruppen sowie durch Kontakte mit John Cage in den USA wurde seine kompositorische Begabung angeregt und gefördert. 1969 veröffentlichte er in England erfolgreich eine erste Version von The Sinking of the Titanic. Es folgten u. a. drei Opern, Orchesterstücke, darunter ein Kontrabass- und ein Klavierkonzert, drei Streichquartette sowie Vokalkompositionen für das Hilliard Ensemble.
Das Thema „Titanic“ hat den Komponisten zu mehreren Versionen für unterschiedliche Besetzungen inspiriert. Die hier vorliegende Fassung besteht aus einem Streichquartett von ca. 15 Minuten Dauer, das durch eine vorfabrizierte CD kontrapunktiert wird. Diese wird mitgeliefert, kann aber durch eine neue, von den jeweiligen Spielern produzierte ersetzt werden. Ausgangspunkt für die vielgestaltige, offene Komposition ist die Aussage eines Bordfunkers der „Titanic“, der nach seiner Rettung berichtete, die Schiffskapelle habe während der letzten Phase des Untergangs weitergespielt und sei mitten im Choral Autumn in den Abgrund gerissen worden. Die von Bryars erstellte CD übermittelt mehrschichtig Ideen und Vorstellungen beim Gedenken an die Katastrophe von 1912. Neben dem extrem langsam und leise gespielten Choral sind andere Elemente zu ahnen bzw. zu erkennen, z. B. Schiffsglocke, Musicbox, kurze Gesprächsausschnitte von Überlebenden sowie Geschrei einer großen Menschenmenge. Bryars benennt für Letzteres als Provenienz „a cup final“.
Das Aufführungsmaterial der Streicher besteht vordergründig aus der vierstimmig gesetzten Hymne Autumn. Dazu treten abgeleitete Stücke, in denen das Zusammenspiel ebenfalls fixiert ist. Charakteristisch ist u. a. der Hinweis: „Freely and very slow, each note played for a full bow length.“ In anderen, frei und virtuos disponierten Sätzen gilt die Anmerkung: „Players play independently of each other and do not attempt to synchronise.“ Gavin Bryars vermittelt neben exakt festgelegter Partitur eine aleatorische Art zu arbeiten – Cage hätte wohl von „Independency“ gesprochen. Die Dynamik ist auf den Rahmen von ppp bis mf beschränkt. Zum angebotenen Material hat der Komponist ausführliche Erläuterungen beigesteuert. Bryars legt mit seiner Titanic-Arbeit eine hochinteressante Kammermusik vor, die den Interpreten nicht nur technische und musikalische Meisterschaft abfordert, sondern auch intensives Mitdenken und Mitschaffen. Sein eindrucksvolles Werk bildet eine lohnende Herausforderung an exzellente Spieler, die in der Lage sind, gleichermaßen Probleme älterer wie neuerer Musik zu gestalten.
Peter Roggenkamp