Stravinsky, Igor

The Rite of Spring / Petrushka (1911)

Rubrik: CDs
Verlag/Label: BIS Records BIS-SACD-1474
erschienen in: das Orchester 10/2011 , Seite 71

Oslo, Stockholm, Göteborg, Helsinki – an renommierten und qualitätvollen Orchestern herrscht im skandinavischen Raum kein Mangel. Dazuzurechnen ist auf jeden Fall das norwegische Bergen Philharmonic Orchestra. Seit 2003 steht Andrew Litton an der Spitze dieses Orchesters, und offenkundig ist es ihm in dieser Zeit gelungen, aus dem Klangkörper ein Ensemble der Spitzenklasse zu formen. Zumindest lässt die exzeptionelle Qualität der vorliegenden Einspielung dies vermuten. Besonders die Solobläser haben in den beiden frühen Ballettpartituren Strawinskys reichlich Gelegenheit zu glänzen, und sie erledigen ihre Aufgabe mit Bravour.
Im Fall von Petruschka wählt Litton die Originalversion von 1911 – was insofern Sinn macht, als in dieser Fassung hörbar wird, wie viel der Komponist in diesem Frühwerk noch der Orchestrationskunst seines Lehrers Rimskij-Korsakow verdankt und wie sehr er noch, bei allen stilistischen Innovationen, in der Tradition der russischen Orchestermusik steht. Litton gelingt es, den enormen Farbreichtum des Werks in mustergültiger Transparenz abzubilden, unterstützt vom gleichermaßen tiefenscharfen wie dynamischen SACD-Klangbild. Dabei kommt das gestisch-tänzerische Element nicht zu kurz, ohne dass jedoch die Partitur auf ihren Jahrmarkts-Hintergrund reduziert würde. Pianist Jarle Rotevatn, der Interpret des anpruchsvollen Soloparts, meistert seine Aufgabe mit ebenso souveräner wie unaufdringlicher Brillanz und hätte dafür einen prominenteren Platz in der Titelliste des Beihefts verdient. Insgesamt mag es Lesarten geben, in
denen aggressivere, groteskere Töne angeschlagen werden; dafür punktet Litton mit einer entspannt atmenden, temperamentvollen, betont lebensfrohen Lesart.
Ähnliches ist vom Sacre zu berichten: Wer auf der Suche nach einer Einspielung ist, in der jener ungeheure Schock, den die Uraufführung dieses Jahrhundertwerks auslöste, wiederzubeleben versucht wird, wird vielleicht ein wenig enttäuscht sein: Andrew Littons „Frühlingsopfer“ findet eindeutig auf dem Boden der neuzeitlichen Zivilisation statt. Der amerikanische Dirigent bietet eine organische, schlanke, beinahe swingende Interpretation mit durchgehend recht zügigen Tempi, in der nichtsdestoweniger jeder einzelne Akzent punktgenau sitzt und der es an der erforderlichen Brutalität, wenn es darauf ankommt – etwa in der abschließenden „Danse sacrale“ oder am Schluss des ersten Teils –, keineswegs mangelt.
Er wählt, passend zu seinem Interpretationsansatz, die etwas transparenter orchestrierte revidierte Fassung von 1947. Klanglich bleibt auch hier kein Wunsch offen – die enorme Präsenz, mit der etwa die in diesem Werk enorm wichtige Große Trommel aufgenommen wurde, ist beispiellos.
Thomas Schulz