Tschaikowsky, Peter

The Nutcracker

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI CD 63162127, 2 CDs
erschienen in: das Orchester 05/2011 , Seite 74

Bislang hat Sir Simon Rattle einen großen Bogen um die Musik Peter Tschaikowskys gemacht. In seiner Diskografie finden sich so auch keine Einspielungen der so emotional packenden späten Sinfonien. Nun hat sich der umtriebige Dirigent doch der Musik des russischen Komponisten genähert. Dass er dafür das komplette, selten zu hörende Nussknacker-Ballett und nicht die populäre Suite wählte, mag am musikalischen Reichtum der Partitur ebenso liegen wie an den Berliner Philharmonikern, die hier ihr virtuoses Potenzial ausreizen können. Dass Rattle im opulenten Booklet – zusätzlich gibt es im Internet noch exklusiv für die Besitzer der Doppel-CD ein breites Informationsangebot – zugibt, bislang zu Tschaikowsky insgesamt kaum einen Zugang gefunden zu haben, wobei er die Ballette explizit ausnimmt, spricht nicht gegen seine Einspielung des kompletten Nussknacker.
Dass das Ballett nach einem Märchen von E.T.A. Hoffmann, bei dem sich Fantasie und Realität auf das Trefflichste mischen, dramaturgisch wenig stringent wirkt, Raum für viele divertimentohafte Momente gibt, hat Tschaikowsky zu einer seiner reichsten Partituren inspiriert. Dies unterstreicht auch diese im Gegensatz zu den häufigen Einspielungen der Nussknacker-Suite eher seltene Gesamteinspielungen des Balletts.
Rattle lässt sein Virtuosen-Orchester bei dieser zum Jahreswechsel 2009 in der Berliner Philharmonie entstandenen Aufnahme sein Potenzial voll ausspielen. Mühelos unterstreichen die Berliner Philharmoniker bei diesem Nussknacker, dass sie eines der weltbesten Orchester sind. Wobei Rattle auf vordergründige Effekthascherei verzichtet, rhythmisch zwar stringent, aber nie das Tänzerische überbetonend dirigiert. Stets bleibt der Klang aufgelichtet, wird die Partitur in ihren Feinheiten transparent ausgebreitet. Nur äußerst selten entsteht der Eindruck, dass hier etwas mehr emotionale Anteilnahme durchaus gerechtfertigt gewesen wäre.
Dass Tschaikowsky sein Leben lang ein schwermütiger Hypochonder war, im Bezug auf den Nussknacker zudem die Befürchtung äußerte, nur noch „Aufgewärmtes“ servieren zu können, wird bei Rattle und den Berlinern ad absurdum geführt. Liebevoll werden die Details der Partitur ausgebreitet, die Raffinesse ihrer Instrumentation nimmt in nahezu jedem Takt gefangen. Hier tanzen die Schneeflocken voller Leichtigkeit, die Solisten des Orchesters erhalten mehr als genug Möglichkeit zum Brillieren. Die seidenweichen Streicher stehen den hervorragend intonierenden Holzbläsern ebenso wenig nach, wie das Blech, das sich äußerst kraftvoll, aber stets kultiviert Tschaikowsky nähert. Eine Aufnahme, die für den Nussknacker neue Maßstäbe setzt.
Walter Schneckenburger