Janácek, Leos

The Makropulos Case

Glyndebourne Festival Opera

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: NVC ARTS / Warner Music
erschienen in: das Orchester 01/2005 , Seite 93

1926 wurde Leos Janáceks Oper Die Sache Makropulos in Brünn uraufgeführt. Sie wurde zwar ein Uraufführungserfolg, aber es gab vor dem Zweiten Weltkrieg nur eine einzige weitere Aufführung, die Deutsche Erstaufführung unter Josef Krips 1929 in Frankfurt am Main. Erst in den sechziger Jahren wurde das musikalische Kriminalstück über Unsterblichkeit von Sir Charles Mackerras in London wieder entdeckt. Mit Elisabeth Söderström hat er die bis heute unübertroffene Schallplatteneinspielung vorgelegt. Aber erst durch die Inszenierung Nikolaus Lehnhoffs beim renommierten Glyndebourne Festival 1995 mit Anja Silja in der Hauptpartie der Emilia Marty trat das Stück seinen triumphalen Siegeszug an: eine Oper ohne Arien und mit fantastischer, ja utopischer Handlung, frei nach einer Komödie von Karel Capek.
Es ist eine suggestive, geradezu hypnotische Musik, die Janácek in seiner drittletzten Oper schrieb und die er zwei Jahre vor seinem Tod herausbrachte. Er verzichtete zugunsten einer vom gesprochenen Wortakzent her gestalteten Tonsprache weitgehend auf alle opernhaften musikalischen Formen, zumal im Gesang, was insbesondere die durch das ganze Stück geisternde Partie der Emilia Marty zu einem sängerischen Parforceritt einer jeden Darstellerin macht. Zu schweigen vom Schauspielerischen, denn sie muss tatsächlich eine jahrhundertelang lebende, nicht sterben wollende Frau in immer neuen Gestalten darstellen. Eine Frau, die seit den Zeiten Kaiser Rudolfs II. aufgrund eines von ihrem Vater für den Kaiser entwickelten und an ihr getesteten Lebenselixiers unsterblich ist, jedenfalls 330 Jahre lang. Die sind nun abgelaufen. Deshalb greift sie in einen Rechtsstreit ein, der sich seit 100 Jahren hinzieht, um an das durch die Generationen erhaltene und weitergereichte geheimnisvolle Dokument zu kommen, das die Formel des Lebenselixiers enthält. Eine Partie, wie geschaffen für die Sängerdarstellerin Anja Silja, die seit 50 Jahren auf der Bühne steht und so oft wie keine ihrer Kolleginnen die Partie der Emilia Marty verkörperte. Fast 30 Jahre singt sie inzwischen die Partie, in unterschiedlichsten Inszenierungen. Sie selbst betrachtet Emilia Marty als die faszinierendste Rolle ihres Lebens.
Was für ein Wunder, dass sie den Zuschauer in der von Nikolaus Lehnhoff ganz auf sie zugeschnittenen Inszenierung fasziniert. Silja verkörpert die Partie mit einer gesanglichen Intensität und darstellerischen Raffinesse, die einen von Anfang an in Atem hält. Tobis Hoheisel hat ihr eine mit Bücherwänden zur Anwaltskanzlei, mit Samtvorhängen zum Theater und mit Gletscherprospekt zum eisigen Sterberaum geeignete Bühne gebaut, einen Laufsteg ihrer verschiedenen Facetten gewissermaßen, auf dem unentwegt eine barocke Statue des Zeit-Gottes Chronos, aber auch alle möglichen Requisiten, Reisekoffer und Möbel auf Laufbändern vorbeiziehen. Die Zeit wird dort zum Raum.
Wie eine Medea schreitet Silja durch die Zeiten, in wechselnden Kostümierungen. Sie ist – eingebettet in ein ausnahmslos hervorragendes Ensemble, aus dem Kim Begley und Victor Braun herausragen – vom Dirigenten Andrew Davis auf Händen eines bestdisponierten London Philharmonic getragen, schlichtweg ein Ereignis. Sie steht Elisabeth Söderström an Schöngesang zwar deutlich nach, aber ihre darstellerische Aura, Größe und Charakterisierungskunst ist – heute jedenfalls – konkurrenzlos. Die „Kindertrompete“, wie Wieland Wagner Anja Silja nannte, Anfang der sechziger Jahre, als er die Zwanzigjährige für Bayreuth und die Wagner-Partien entdeckt hatte, ist hier noch immer stimmlich fulminant als Janácek-Tragödin zu erleben. Trotz ihrer 64 Jahre ist Silja noch immer eine Femme fatale, die Jugendlichkeit ausstrahlt. Und sie ist eine absolut unopernhafte Sängerin von enormer darstellerischer Wandlungsfähigkeit: Sie ist als Emilia Marty ganz Dame, sie ist besoffene Hure, sie ist eitle Primadonna, cooler Vamp und zartfühlende Frau, ja Privatmensch am Ende. Man muss sie in dieser Partie gesehen haben.
Der Fernseh- und Videoregisseur Brian Large hat die Aufführung in der DVD-Fassung – die in tschechisch gesungen, aber deutsch untertitelt ist – sehr intim und untheaterhaft ins Bild gesetzt. Auch der Ton ist makellos. Für alle an dem Stück Interessierten, zumal für alle Silja-Verehrer, ist diese DVD ein unbedingtes Muss.
Dieter David Scholz