Czernowin, Chaya

The last leaf

für Sopranino-Saxophon

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2013
erschienen in: das Orchester 09/2013 , Seite 76

Der amerikanische Autor O. Henry (1862-1910) veröffentlichte 1907 die Kurzgeschichte The last leaf (Das letzte Blatt). Die Erzählung spielt in Greenwich Village in New York. Zwei Frauen teilen sich dort ein Haus mit einem alten Maler, der von einem Meisterwerk träumt. Eine der Frauen ist schwer krank und glaubt zu sterben, wenn das letzte Blatt des Efeus, welchen sie vom Bett aus sehen kann, gefallen ist. Als nur noch ein Blatt an der Pflanze zu sehen ist und in der Nacht ein Sturm aufkommt, erwartet sie den Tod. Doch auch nach dem Sturm am nächsten Morgen ist das Blatt noch zu sehen. Die Frau gesundet. Bei seinem Krankenbesuch erzählt der Arzt ihr, dass der Maler im Krankenhaus liege und sterben werde. Die Frau erkennt nun, dass das Blatt welches sie nach dem Sturm sah, gemalt war. Es war das Meisterwerk des Malers, der das Bild während des Unwetters malte und sein Leben für ihres opferte.
Chaya Czernowin nimmt mit dem Titel der vorliegenden Komposition auf diese Kurzgeschichte Bezug. Die Originalfassung für Oboe wurde ursprünglich angeregt durch Peter Veale, dem das Stück auch gewidmet ist, und 2010 in Freiburg uraufgeführt. Die vorliegende Fassung für Sopranino-Saxofon unterscheidet sich laut Vorwort von Chaya Czernowin etwas von der Originalfassung für Oboe.
Czernowin, geboren 1957, erhielt ihre künstlerische Ausbildung u.a. in Tel Aviv an der Rubin Academy, in Berlin bei Dieter Schnebel und an der University of California in San Diego bei Brian Ferneyhough. Sie war 1997 bis 2006 Professorin für Komposition in San Diego, 2006 bis 2009 war sie Professorin für Komposition an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Anschließend erhielt sie einen Ruf an die Harvard University in Boston. Ihre Werke wurden bisher auf über 25 Festivals in aller Welt aufgeführt, u.a. den Salzburger Festspielen. Czernowin erhielt zahlreiche Auszeichnungen: 2000 den Bayerischen Theaterpreis für die Oper Pnima … ins Innere, 2003 den Förderpreis der Ernst-von-Siemens-Musikstiftung, 2004 den Förderpreis der Rockefeller Foundation und 2011 den Guggenheim Fellowship Award, um nur einige zu nennen. Neben den Arbeiten für das Musiktheater komponiert sie auch Werke für Kammermusikbesetzungen und Ensemble.
In ihrer zwölfminütigen Komposition The last leaf arbeitet Czernowin beispielsweise mit Vierteltönen und ungenauen Tönen, mit grafischer Notation, mit Klappengeräuschen des Saxofons, komplexen Rhythmen, extremer Dynamik (von pppp bis ffff), zahlreichen Tempowechseln, verschiedenen Taktarten und assoziativen Anweisungen wie: „Diese Phrasen sollen nicht expressiv ausgeführt werden. Sie sind eher wie ein wild verwobenes Spinnennetz, was zart berührt wird, oder wie ein sich ungleichmäßig bewegender und äußerst sensibler Seismograph.“ Die Komposition besticht durch ihre Vielfalt und den Ideenreichtum. Zudem stellt sie eine Herausforderung für Saxofonisten dar.
Ulrich Falk