Shchedrin, Rodion

The Enchanted Wanderer

Opera for the concert stage for three solo voices, chorus and orchestra, based on a story by Nikolaj Leskov, Klavierauszug vom Komponisten

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: das Orchester 06/2013 , Seite 65

Es ist eine düstere Geschichte voll Liebe und Verrat, Enttäuschung und Hoffnung und verpasster Gelegenheiten, Dunkelheit und Mystik, eine Geschichte aus der Tiefe der so sprichwörtlichen „russischen Seele“. Eine Geschichte also, die alles das mitbringt, was das Musikdrama so braucht: „Ich bin in meinem 53. Lebensjahr. Ich sterbe immer während, vermag aber nicht wirklich zu sterben“: Besser als mit diesen Sätzen im Prolog lässt sich die Stimmung dieser Oper nicht zusammenfassen.
Als Vorlage der Oper The Enchanted Wanderer (Der verzauberte Pilger) diente Rodion Shchedrin die gleichnamige Erzählung seines russischen Landsmanns Nikolai Leskov. Es ist eine verschlungene Erzählung,
in der der Mönch Ivan Severyanovich Flyagin am Ende seines weltlichen Lebens in der Valaam-Abtei zurückblickt. Ihm, der in Wut einst einen Mönch zu Tode peitschte, wurde prophezeit, dass er, der ausgewählte Sohn Gottes, Todesqualen leiden würde, aber seine Bestimmung erst nach seinem Tod in der Welt ernstnehmen könnte. Und so kommt es: Auf Reisen wird er von Tataren gefangen genommen und gefoltert. Nach zehn Jahren gelingt ihm die Flucht, er wird Gutsverwalter, verliebt sich in die schöne Zigeunerin Grusha und verschleudert für sie das ihm anvertraute Geld. Aber sein Herr verzeiht ihm, als er Grusha sieht und heiratet sie; wird ihrer aber bald überdrüssig und verstößt die Zigeunerin ins unwirtliche Moor, um stattdessen eine reiche Braut heimzuführen. Ivan macht sich auf die Suche nach seiner untreuen Geliebten. Grusha erzählt ihm, sie habe einen alten Mann getroffen (in dem Ivan den von ihm getöteten Mönch wieder erkennt), der ihr weissagte, sie würde Ivan treffen. Trotz aller Wiedersehensfreude verlangt sie von ihm die Zusage, sie vom Felsen zu stürzen, da sie sonst den Prinzen und seine neue Braut töten wird. Und nun sitzt er nach dem Mord an der Geliebten allein da, im Kloster und blickt auf sein Leben voller Entbehrungen und verpasster Chancen.
Wie schon Schostakowitsch (für seine Oper Lady Macbeth von Mzensk) vor ihm, fand auch Shchedrin Gefallen an der düster und unheilschwangeren Textvorlage Leskovs. 2002 in New York durch den Widmungsträger Lorin Maazel aus der Taufe gehoben, stand diese Konzertoper recht bald auch auf den Spielplänen der großen europäischen Festivals. Das aber wohl kaum wegen der doch recht dünnen Story. Denn obwohl die Story alle Zutaten eines Dramas hat, ist sie zu verworren und übertrieben erzählt.
Jetzt endlich liegt zu Studienzwecken ein vom Komponisten selbst erstellter Klavierauszug vor. Shchedrins mitreißende, spannungsgeladene und recht dichte Musik, die manchmal stark minimalistische Züge trägt, entfernt sich von der Textvorlage und sucht sich einen eigenen Weg. Insofern ist der Untertitel „Opera for the Concert Stage“ recht passend. Unbarmherzig treibt die rasche Rhythmik voran und lässt kaum Zeit für größere Reflexionen. Aber überhaupt liegt der Reiz dieser Musik nicht in den weiten Flächen, sondern im Reiz der kleinen Figuren. Den Solisten verlangt Shched­rin einiges ab. Schade, dass der Text in der Partitur nur auf Russisch vorliegt, lediglich eine englische Übersetzung ist dem Notentext vorangestellt. Hier hätte ich mir eine etwas praktischere Ausstattung gewünscht.
Markus Roschinski