Casken, John
The Dream of the Rood
for four voices and instrumental ensemble, Studienpartitur
> Der 1949 geborene englische Komponist John Casken, den über lange Jahre eine intensive Freundschaft zu dem 1994 verstorbenen Witold Lutoslawski verband, schrieb diese 30-minütige Komposition für das international renommierte Hilliard Ensemble, das auch für die Uraufführung 2008 in Liverpool verantwortlich zeichnete. Der Titel lautet übersetzt etwa Der Traum vom Kreuz, der Text ist eine freie Adaption eines der berühmtesten poemsder mittelalterlichen angelsächsischen Literatur, um das Jahr 700 entstanden, und schildert die Kreuzigung aus der Sicht des Kreuzes Christi, das einem nächtlichen Besucher als überwältigendes Symbol erscheint (s. Wikipedia, Artikel Englische Literatur).
Das Werk ist gegliedert in drei Prozessionen, fünf Motetten (eine davon trägt den Titel Motet of the rood), vier Interludien und drei mit Dream of
betitelte Abschnitte. Die Interludes sind im Sinne der klassischen Tradition als rein instrumentale Zwischenspiele zu verstehen, in den Prozessionsabschnitten gibt es vor allem am Anfang und gegen Ende szenische Anweisungen für die vier männlichen Solisten. Der Komponist sieht vor, das Solisten- und das 10- bis 11-köpfige Instrumentalensemble (je nach Anzahl der Schlagzeuger), teilweise apart besetzt mit Altflöte, Englisch Horn und Sopransaxofon, von einem Dirigenten leiten zu lassen. Angesichts der für Neue Musik typischen großen Schlagzeugbesetzung scheint die Möglichkeit, nur einen Spieler zu besetzen, doch reichlich illusorisch.
Insgesamt offenbart sich die Singstimmenbehandlung als sehr sperrig, ist durchaus als atonal zu bezeichnen und damit nur von Gesangsspezialisten zu bewältigen, die absolut intonationssicher sind. Der Tonsatz besitzt eine sehr lineare, auf Spaltklang zielende Führung. So gibt es nur wenige chorisch orientierte klanglich-vertikale Passagen, so in den Motetten, wo sich Casken manchmal einer an Puccini orientierten Satztechnik bedient: Die Außenstimmen singen melodisch in Paralleloktaven, die Mittelstimmen füllen den Rahmen harmonisch auf. Hier ist der disparate Tonsatz unterbrochen, eine Art Mischklang breitet sich aus, der auch harmonisch tonale Elemente enthält. Im Dream of Adornement und der Motet of the rood präsentiert sich das Solistenensemble sogar kompakt homorhythmisch, homofon und teilweise im Unisono, ohne traditionelle Harmonik zu benutzen.
Das Ensemble ist teilweise klangflächenartig atmosphärisch eingesetzt, und es werden spezielle Spieltechniken der Neuen Musik wie Flageoletttöne in der Posaune oder tremolierende Streicher verwendet. Es gibt aber auch expressionistisch-gestische, an die Neue Wiener Schule der frühen atonalen Phase erinnernde Ausbrüche. Eine andere im Instrumentalensemble eingesetzte Technik ist die heterofone Doppelung von Melodielinien, eine quasi enge kanonische Führung oder leicht rhythmische Variation einer Linie. Bedauerlicherweise gibt es wohl bisher keine veröffentlichte Einspielung des Werks. Aus dem genauen Studium der sorgsam erstellten und sehr gut brauchbaren Partitur geht allerdings eindeutig hervor, dass dieses sehr komplexe und musikalisch differenzierte Werk ausschließlich von vokalen wie instrumentalen Spitzenkräften für Neue Musik aufführbar sein dürfte.
Kay Westermann