Lazzari, Sylvio / Volkmar Andreae

The Complete Works for Violin and Piano

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Genuin GEN 10167
erschienen in: das Orchester 09/2010 , Seite 67

Michael Schäfer wollte ursprünglich Glaziologie studieren. Aber er wurde Pianist. Doch zusammen mit der Geigerin Ilona Then-Bergh unternimmt er in der Musik etwas, das der Arbeit eines Glaziologen vergleichbar ist. Er gräbt aus, was unter dem riesigen Gletscher des Musikbetriebs zermalen und vergraben wurde. So spielten die beiden die weitgehend vergessenen Werke für Violine und Klavier von Resphighi ein, Schäfer widmete sich dem Klavierwerk von Ignaz Friedman, Cyril Scott und Vincent d’Indy.
In diesem Jahr legen die beiden Kompositionen für Violine und Klavier von Sylvio Lazzari und Volkmar Andreae vor. Die wenigsten Musikliebhaber werden diese Namen kennen. Lazzari wurde 1857 in Bozen geboren und starb 1944 in Paris. Andreae stammt aus Bern und lebte von 1879 bis 1962. Ihr Wirken fiel in eine aufregende Zeit mit zwei Weltkriegen, der Erfindung von Radio und Schallplatte und dem Aufbruch der Musik in die Moderne.
Die beiden Violinsonaten von Lazzari und Andreae wurden um die Jahrhundertwende komponiert, Lazzaris Scherzo 1931. Ihr musikalischer Stil erinnert etwa an die Violinsonate von Richard Strauss. Wird schon
die Strauss-Sonate eher selten gespielt, so erklingen Lazzaris und Andreaes Werke nie in großen Konzertsälen. Woran liegt das? Noch vor einem Jahrzehnt hätte man gesagt, dass diese Musik von der Zeit überholt wäre, gilt doch schon Strauss als rückschrittlich. Heute, da der Glaube an kulturellen Fortschritt gebrochen ist, sieht man das anders, ist eher bereit, auf Nuancen zu hören, herauszufinden, was zwei tonal komponierende Zeitgenossen eines Claude Debussy oder Arnold Schönberg uns sagen.
Wenn man ohne Vorurteile hinhört, erkannt man Erstaunliches. Die Geige schwingt sich in weiten Spannungsbögen zu einem großen „Gesang“ empor, das Klavier setzt ihm gleichsam polyfon Akzente entgegen, welche die Harmonik expressiv ausweiten, die Dramatik erhöhen und eine reiche Palette von Klangfarben der Melodie hinzufügen. Diese Musik ist von einer eminenten Dynamik bestimmt. Ihr Prinzip ist die Entladung von Spannung. Sie besitzt die stets fragile Schönheit des Fin de Siècle. Sie sagt genauso viel über die Jahrhundertwende und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts aus wie die der bekannten Komponisten.
Ilona Then-Bergh und Michael Schäfer gelingt es, den Hörer für die Musik Lazzaris und Andreaes einzunehmen und zu begeistern. Then-Bergh trifft genau den richtigen Ton, spielt singend auf ihrer Geige, gestaltet große Spannungsbögen, bruchlos und doch facettenreich. Ihr Ton ist weich, doch das Vibrato drängt sich nie störend nach vorne. Ihre Phrasierung und Artikulation sind vorbildlich. Schäfer versteht seinen Klavierpart als „Orchester“ mit vielen Stimmen und Bewegungen, die manchmal mit der Geige verschmelzen und dann wieder einen Kontrapunkt bilden. Eine bessere Entdeckerarbeit könnte nicht geleistet werden!
Franzpeter Messmer