Mendelssohn Bartholdy, Felix

The Complete String Symphonies

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Orfeo C 763 093 D, 3 CDs
erschienen in: das Orchester 07-08/2010 , Seite 64

Es wäre eine grobe Fehleinschätzung, Mendelssohns 13 Jugendsinfonien für Streicher als bloße Kompositionsübungen zu deklassieren. Auch wenn die ersten Werke des damals 12-jährigen Komponisten viele Einflüsse aus der Wiener Klassik bestimmen und darin auch manche kontrapunktischen Stilmerkmale des Barock aufblitzen, denen Mendelssohn in den nachfolgenden Sinfonien mit zahlreichen Fugato-Passagen ein immer stärkeres Gewicht beimisst, so lassen diese traditionsgebundenen Kompositionstechniken in den späteren Arbeiten doch auch schon erste Anzeichen des mendelssohn-typischen Personalstils erkennen. Die Beschäftigung mit der Tradition begleitete Mendelssohns Schaffen zeitlebens und insofern bilden da auch seine frühen Streichersinfonien keine Ausnahme. Eine interpretatorische Annäherung sollte aber den Blickwinkel nicht im Unmaß auf diese der Tradition verpflichteten Merkmale lenken und diese nicht derart abgeklärt und charakterbestimmend zum Ausdruck bringen, als schaue hier ein greiser Schöpfer aus einer untergegangenen Epoche noch immer zurück auf die Musik seiner Ahnen.
Genau diesen Eindruck aber gewinnt man beim Hören von Michael Hofstetters neuer Einspielung der Jugendsinfonien mit dem Stuttgarter Kammerorchester. Da ist wenig zu spüren von dem unbändigen Eifer und dem Lustgewinn des jungen Mendelssohn bei der musikalischen Aneignung der Stilistika seiner Vorläufer, da glaubt man vielmehr, einen sich dem Neuen verschließenden und gegen seine Zeit arbeitenden Epigonen vor sich zu haben. Jugendlichen Elan, ein Sich-erproben-wollen atmet diese Herangehensweise nicht. Dafür sind Klangvorstellung und Temperament der Aufnahme des Stuttgarter Kammerorchesters viel zu gleichmacherisch und gediegen und viel zu sehr geprägt am Klang- und Formideal der klassischen Epoche.
Die Außenstimmen, denen Hofstetter meist eine höhere Präsenz als den Mittelstimmen einräumt, zeigen sich zwar unter den Händen der Stuttgarter bestechend präzise und die vibratoarme Tongebung sehr sauber, aber das Profil von Mendelssohns feinadriger Textur gewinnt so nicht an wünschenswerter Durchsichtigkeit. Im Vordergrund des interpretatorischen Konzepts steht nicht die Intention einer auffächernden Präsenz, sondern die eines warmen und wattierten Mischklangs.
Eine solcherart risikoscheu angelegte, selten einmal forciert attackierende und die analytische Prägnanz eher nachrangig beurteilende Sicht muss sich aber spätestens dann geradewegs als kontraproduktiv erweisen, wenn es wie etwa im Kopfsatz der B-Dur Sinfonie (Nr. 5) an sich um den klanglich nachvollziehbaren Nachweis der staunenerregenden kompositionstechnischen Aufgabenstellung des jungen Mendelssohn gehen sollte, der hier über den ganzen Satz hinweg an einer ostinaten Figur festhält, die auch im Hintergrund mal von der einen, dann wieder von der anderen Stimme aufgegriffen wird. Das nimmt man bei Hofstetter so kaum wahr.
Auf der anderen Seite aber macht er manche der langsamen Sätze zu atmosphärisch derart dichten Stimmungsbildern, die der Komponist mit seinen zwölf Jahren so wohl kaum beabsichtigt haben dürfte.
Thomas Bopp