Callas, Maria

The Callas Conversations

Rubrik: DVDs
Verlag/Label: EMI 4907639 DVD
erschienen in: das Orchester 07-08/2004 , Seite 83

„Man muss sich die Mühe machen, mit der Seele und den Ohren zu hören, dann wird man jede Geste und Bewegung in der Musik finden.“ Das ist im Grunde eine der wesentlichen Erkenntnisse historischer Aufführungspraxis. Doch schon lange bevor Nikolaus Harnoncourt sein Buch Musik als Klangrede schrieb, kam Maria Callas zu dieser Einsicht. Maestro Tullio Serafin, der ihr Talent entdeckte, sie an die Scala holte und zu „der Callas“ machte, hatte sie schon Anfang der fünfziger Jahre gelehrt, dass „Personenführung durch die Musik inspiriert ist“. In Interviews mit dem britischen Journalisten Lord Harewood spricht die Diva sogar schon 1968 von „Werktreue“ und von der „ersten Pflicht, sich in den Komponisten hineinzufühlen“ – lange bevor die Originalklangbewegung überhaupt einsetzte.
Insofern wirken die alten Archivaufnahmen, die unter dem Titel Maria Callas – The Callas Conversations erschienen, erstaunlich aktuell, zumal sich die Diva mit ähnlichen Fragen auseinander setzt wie Vertreter des modernen Regietheaters. „Der Opernbetrieb ist verstaubt“, sagt die Primadonna, „wir haben nicht viel getan ihn zu modernisieren.“ Sie wollte vor allem Wiederholungen bei langen Arien weglassen, auch auf die Gefahr hin, dabei in Konflikt mit ihrem Anspruch nach Werktreue zu geraten: „Wir beleben die Oper, auch wenn der Komponist sich das anders dachte.“ An einzelnen Beispielen veranschaulicht Maria Callas, in welcher Weise sie bestimmte Figuren psychologisch weiterentwickelte: Cherubinis Medea verkörperte sie zunächst als Megäre, bis sie erkannte, dass nicht sie, sondern ihr treuloser Gatte Jason der eigentliche Schurke ist. Von da an gab sie ihr mehr „lebendige Weiblichkeit“ und verkörperte eine starke Frau, die zu Unrecht zum Sündenbock gemacht wurde und deren Leidensgeschichte erst eine Christa Wolf rund 20 Jahre später aus feministischer Sicht neu erzählen sollte. Auch was die Traviata angeht, war Callas ihrer Zeit weit voraus. Schon damals deutete sie die ersten beiden Akte als eine lange Rückblende der sterbenskranken Heldin – wie Peter Mussbach rund 40 Jahre später.
Doch teilt La Divina zum Glück nicht die Radikalität so mancher Neuerer. Von ihren intelligenten Überzeugungen, Einsichten und Aperçus kann etwa eine Doris Dörrie, die ihre Inszenierungen bislang nicht aus dem Notentext entwickelte, nur lernen. Zum Beispiel, dass sich so mancher spleenige Regie-Einfall beim genauen Hören auf die Musik erübrigt, dass sich Sängerinnen in bestimmten Partien möglichst wenig bewegen sollten, um die Intensität der Regungslosigkeit zu unterstreichen, und nicht zuletzt, dass es in der Oper auf guten Geschmack ankommt.
Drei musikalische Beigaben von Massenet (Manon), Bellini (La Sonambula) und Puccini (Gianni Schicchi) aus einer französischen, viel gerühmten Fernsehsendung (1965) und ein weiteres Interview mit dem französischen Reporter Bernard Gavoty über die hohe Kunst des Belcanto runden die bedeutsame Dokumentation ab.
 
Kirsten Liese