Hosokawa, Toshio
Tabi-bito/Sen VI/Die Lotosblume
Es beginnt mit einem einzelnen Schlag und dann herrscht erst einmal Stille eine Stille mit Spannung. Spannung, die intensiver nicht sein könnte. Eine Stille, die anhält, bis man nicht mehr daran glaubt, dass Klänge sie noch ablösen könnten. Doch weit gefehlt. Die Percussion-Schläge kommen wieder, dürfen erneut klingen, sich jetzt in ihrer Behandlung selbst ähnlich werden. Mit Pausen, bis sich ein bizarr-zarter Orchesterklang darunter webt
Bis hierher ist eine Minute des knapp halbstündigen Werks “Tabi-bito” (Wanderer) des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa vergangen. Die Orchesterstimmen verdichten sich, bis sich die Anspannung der Stille wieder einstellt. Später entwickeln sich röhrende Klanggebilde und Klangteppich-Fetzen, die wie illustrierende Musik einer düsteren Szenerie anmuten. Anleihen an die Musique concrète vermutet man zu vernehmen, doch Instrumente ahmen sie nur nach. Bedrohliche Ton-Tiefen werden ausgelotet. Zarte Metallklänge hier und da vermögen kaum zur Aufhellung beizutragen. Eigentlich etwas, was wir aus der Neuen Musik kennen und doch ist etwas faszinierend: Die Stille bei Toshio Hosokawa ist besonders lang, spannender als gewohnt, da sie ein Spiel- und Stilelement bildet, das um Gehör bittet. Eine Stille, die den leeren Raum um japanische Kalligrafie-Zeichen abbildet und somit viel Bedeutung trägt. So will es der 1955 in Hiroshima geborene, vielfach ausgezeichnete Komponist, der schon früh nach Europa kam und die westliche Musik hörbar zu schätzen weiß.
Die CD stellt Percussion in den Blickpunkt des Hörens, und das in verschiedenen Konstellationen. So agiert Isao Nakamura beim zweiten Stück, das “Sen VI” überschrieben ist, allein. Auch hier isolierte Schläge, Akzente, Gesten locker gereiht und doch keine Linie. Dazwischen vokale Laute, die Energie ausdrücken. Kein Strukturgerüst, an dem sich das Ohr orientieren kann. Doch das Kuriose ist, dass man ein solches nach wenigen Minuten auch nicht mehr erhofft und noch weniger erwartet. Der Hörer hüpft sozusagen von akustischer Insel zu akustischer Insel. Aber das genügt, um hingerissen zu sein, genau hinzuhören. Die virtuose Kunst Isao Nakamuras trägt das Ihre dazu bei.
Ein sich immer weiter auffächerndes chorales Summen und silberhelle Glöckchenklänge bilden den Anfang der Komposition, die Percussion mit Vokalstimmen vereint. Hosokawas jüngste Komposition der CD, Die Lotosblume von 2006, geht auf das Gedicht Die Lotosblume ängstigt von Heinrich Heine zurück. Das Gedicht wurde mehrfach vertont, darunter von Robert Schumann. Hier zeigt es sich in einer Musiksprache, die ihre Entstehungszeit nicht verleugnet und doch traditionelle Vertonungsgepflogenheiten zulässt: Der Chor, der mit seiner Klarheit und gleichzeitigen Farbigkeit allein schon klangästhetisch besticht, ist so dynamisch ausgelotet, dass man jede Zeile des Gedichts, auch ohne den Text wörtlich zu vernehmen, nachzuhören vermag. Da streckt sich mehr als nur ein Lotosblumenblatt dem Himmel entgegen
Sabine Kreter