Tüür, Erkki-Sven
Synergie
pour violon et violoncelle (2010)
Eine fraglos ungewöhnliche, bemerkenswerte Karriere ist das: vom Autodidakten, dann Schüler und Studenten in Tallinn, Gründer, Keyboarder, Flötist und Sänger der Rockband In Spe, Kompositionslehrer in seiner Heimatstadt zu einem der gefragtesten Tonschöpfer unserer Tage. Der 1959 geborene Este Erkki-Sven Tüür zählt heute weltweit zu den profiliertesten Komponisten der mittleren Generation, seine Musik wird von Elite-Orchestern und Star-Interpreten in den berühmtesten Konzertsälen der Welt aufgeführt.
Seinen Ansatz beschreibt er selbst: Bei meinem kompositorischen Schaffen handelt es sich ausschließlich um das Verhältnis zwischen geistiger und emotionaler Energie sowie um die Möglichkeiten, diese zu lenken, zu konzentrieren, zu liquidieren und wieder ansammeln zu lassen [
] Ich hegte immer ein starkes Interesse für die Verbindung von Gegensätzen Tonalität/Atonalität, regelmäßig wiederkehrende Rhythmen/unregelmäßige komplexe Rhythmen, Besonnenheit/explosive Theatralik und vor allem für die Art und Weise, wie sich diese Gegensätze allmählich durchdringen und gegenseitig ablösen [
] In meinen Kompositionen seit etwa 2002 [
] habe [ich] eine Methode entwickelt, die ich vektorielles Schreiben nenne, da das Prinzip der Stimmführung im weiteren Sinn den Projektionen von Vektoren in unterschiedliche Richtungen folgt. Gleichzeitig wird das zugrunde liegende kompositorische Material durch einen bestimmten numerischen Code definiert, der wie ein Gen funktioniert, das die gesamte kompositorische Formung und alle möglichen Variantenbildungen und Transformationen in sich trägt.
2010 schrieb Tüür im Auftrag von Renaud und Gautier Capuçon für das Kammermusik-Festival Bel Air in Chambéry das etwa zehn Minuten lange einsätzige Duo Synergie: Wie der Titel nahelegt, galt mein Interesse der kumulativen Energie, die aus der gemeinschaftlichen Tätigkeit (Zusammenarbeit?) zweier verschiedener Aktionen entsteht. In diesem Sinne ist 1 + 1 immer mehr als zwei, und so ist es auch in diesem Werk.
Die ersten 45 Takte gehören ganz der Violine, die pianissimo beginnend, scheinbar improvisierend Farben und Motive, Arpeggien, Triller, Flageoletts vorstellt, immer wieder unterbrochen durch Spannungspausen und gelegentlich vom Cello kommentiert durch Pizzicato-Akkorde. Ab Takt 46 finden sich beide Instrumente zum Dialog, zum Unisono, Tonumfang und dynamischer Radius expandieren, die Strukturen verdichten sich, Geige und Cello scheinen ganz im Sinn des vom Komponisten postulierten 1 + 1 ist immer mehr als zwei zur Riesengeige zu verschmelzen. Von jetzt ab bis zum Ende bleibt die Energie eine gemeinsame, auch in den auf den Höhepunkt folgenden leisen Passagen zu Beginn des Schlussdrittels. Sieben Takte vor Schluss dann ein finaler Energieschub: Unisono-Akkorde im Pizzicato, sich metrisch verlangsamend, abebbend und ein arco-Ende im Nichts.
Ganz leicht ist es nicht, dieses wirkungsvolle, deklamatorisch-expressive Werk. Profis dürfte es bei eingehender Beschäftigung trotzdem keine allzu großen Kopfschmerzen bereiten.
Herwig Zack