Mahler, Gustav

Symphony No. 9

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Warner 2564 64316-2
erschienen in: das Orchester 07-08/2007 , Seite 79

Ende der 1960er Jahre besuchte der junge Daniel Barenboim am Jom-Kippur-Fest ein Konzert in der Royal Festival Hall London. Otto Klemperer dirigierte die 7. Symphonie von Mahler. Klemperer zu Barenboim nach dem Konzert: „Sie sind mir vielleicht ein Spitzbube. Sie hassen Mahler, aber in die Synagoge zu gehen, hassen Sie noch viel mehr.“ Auch nach eigenem Bekunden fand Barenboim Mahlers Musik damals „ziemlich schrecklich“, abgesehen von manchen Vokalwerken.
Mit dieser ablehnenden Haltung steht Barenboim nicht allein, doch es hat schon Gewicht, wenn einer der prominentesten Dirigenten der Zeit sich von den prestigeträchtigen Mahler-Symphonien über Jahrzehnte hinweg fern hält. Als er vor einem Jahr „als Spätberufener“ zwei Mahler-Symphonien mit der Staatskapelle Berlin aufnahm, durfte er deshalb sicher sein: Es würde ein Raunen durch das Land gehen. Zumal der Maestro einen anderen, einen „gereinigten“ Mahler versprach.
Was heißt das im Fall der Neunten, die im November 2006 live in der Berliner Philharmonie mitgeschnitten wurde und jetzt (neben der Siebten) auf CD vorliegt? Zunächst lohnt es sich, auf die Parallelen einzugehen, die der Dirigent zwischen Berlioz und Mahler zieht – auf die Mahler’sche Instrumentation, deren farbliche Vielfalt ihn ebenso fasziniert wie die Gleichzeitig von an- und abschwellender Dynamik.
Unter diesen Vorzeichen sucht und findet Barenboim mit der großartigen (nur ganz selten übersteuerten) Staatskapelle über weite Strecken eine bemerkenswerte Transparenz. Er macht durch geschickte Balance Stimmen hörbar, die sonst oft im Bombast ersaufen, und das, ohne das ganze Tongewebe gleich zu sezieren. Er bleibt durch und durch Herzmusiker, setzt auf satten Sound, strahlendes Blech, butterweiche Streicher und abgerundete Holzbläser. Die Farbpalette, die er im zweiten Satz anmischt, dürfte kaum zu überbieten sein.
Doch da ist auch die andere Seite von Barenboims Interpretationsansatz – der Versuch, Mahler vom vermeintlichen außermusikalischen Ballast zu befreien. Derart beflügelt glättet er überall dort (und gerade im langsamen vierten Satz), wo man auf existenzielle Gedanken kommen könnte. Er spielt fröhlich über Abgründe hinweg, kleistert Lücken mit viel Klang zu, bügelt vermeintlich überflüssige Rubati aus.
Die ganze Ambivalenz dieser Aufnahme tritt innerhalb weniger Takte im ersten Satz zutage: In den ersten großen Höhepunkt herein bricht in Takt 108 der frappierende Leitrhythmus der Hörner, es folgen fahle Blechbläsereinwürfe und schattenhafte Figuren der Bassklarinette. Bei Barenboim aber fehlt hier jedes Geheimnis, jeder doppelte Boden. Wie die Streicher der Staatskapelle kurz darauf jedoch wispernd dem Anfangstempo entgegen streben – das ist höchste Orchesterkunst.
Johannes Killyen