P. I. Tchaikovsky

Symphony No. 6 in B minor op. 74 Pathétique

> Symphony No. 6 in B minor op. 74 Pathétique MusicAeterna, Ltg. Teodor Currentzis

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Sony Classical
erschienen in: das Orchester 04/2018 , Seite 66

Was anfangen mit Tschaikowskys sechster Sinfonie, der Pathétique? Ist diese Musik in des Komponisten Trauertonart h-Moll die Musik für einen er­baulichen Konzertabend? Die Musik, in der der Komponist sein ganz eigenes Leiden an seinem Dasein in Töne fasste und sich, so kann man es heute sagen, in ihr mit seinem baldigen Tod beschäftigte? Denn neun Tage nach der Uraufführung am 28. Oktober 1893 war Tschaikowsky tot. Gestorben unter den mysteriösen Umständen, über die unverändert spekuliert wird.
Wie nehmen wir ein so irrlichterndes Werk auf, das keinen Beginn hat (Attila Csampai), einen Walzer zu einem Strom der Tränen ausbreitet und mit fünf Pizzicati der Bässe verlischt? Die meisten Dirigenten machen einen Bogen darum; oder sie machen großes Drama daraus, „pathetisch“ auch im Sinne unseres Wortes. Wenige haben die Gabe, in dieser Sinfonie russische Seele mit musikalischer Klarsicht zu verbinden, wie das Mariss Jansons gelingt. Nun tritt Teodor Currentzis auf den Plan, „Dirigent des Jahres“ 2016.
Sony hat soeben Tschaikowskys Sechste unter Currentzis’ Leitung mit dessen in Perm basiertem Orchestra MusicAeterna in großer sinfonischer Besetzung herausgebracht. Dieses Stück muss den ebenso nachdenklichen wie temperamentgeladenen Dirigenten umgetrieben haben. Beleg dafür ist sein Essay, der im Booklet statt einer Werkbeschreibung steht. Currentzis spricht den Komponisten direkt an und befragt ihn nach den Rätseln seiner Komposition. Dieser Text passt zu dem, was wir zu hören bekommen. Nämlich einen sehr nachdenklichen, skrupulösen, mitfühlenden Dirigenten. Das andere Gesicht des Teodor Currentzis, der sich etwa bei Mozart oder bei Barockmusik als Aufbürster, als Rau-Macher gibt. Tschaikowsky dagegen zeigt er als zarten Menschen, als feinfühligen und hochsensiblen Klanggestalter, dem Melancholie und Lebensleid in diesem seinem letzten Stück quasi die Töne aus der Hand nehmen.
Immer wieder lässt sie Currentzis von seinen Musikern flüchtig, gleichsam am Rand ihrer Existenz spielen. Das heißt nicht, dass die Musik keine Energie hätte. Sie wird auch laut, nur eben nicht vorlaut. Im Zentrum stehen die Töne und deren hochdisziplinierte Ausformung. Currentzis hat sein Orchester MusicAeterna zu einem großartigen Ensemble geformt; eine solche Verbindung von kammermusikalischer Feinheit und charaktervollem Zusammenklang kenne ich in dieser Besetzungsgröße nur von den Wiener Philharmonikern.
Da man das Orchester auch als Zusammenspiel der einzelnen Musiker wahrnehmen kann, hat die Musik Authentizität, ohne pathetisch, sentimental oder larmoyant zu werden. Man merkt genau: Tschaikowsky wusste, was er wollte, und er wusste, wie er das schreiben muss. In dieser Zartheit, in der feinschillernden Transparenz, die uns Orchester und Dirigent hier anbieten, liegt der Seelenklang von Tschaikowskys letzter Komposition. So nah, so intim, so zerbrechlich wie unter Currentzis, damit auch offen und ehrlich, habe ich die Pathétique noch nicht gehört. Ich bin glücklich über diese wunderbare Aufnahme.
Laszlo Molnár