Tchaikovsky, Peter
Symphony No. 5 / The Nutcracker Suite op. 71a
Das Missverhältnis von Tschaikowskys erhaltenen und aufführbaren Werken zu den mit Opus-Zahl versehenen Stücken ist allseits bekannt. Nur rund ein Viertel der Kompositionen sind gelistet. Das Tschaikowsky-Werkverzeichnis kommt sogar auf 512 Stücke des an Cholera gestorbenen Russen. Darauf verweist der Dirigent und Musikwissenschaftler Benjamin-Gunnar Cohrs im Booklet-Text der neuen Tschaikowsky-Einspielung des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR unter Roger Norrington. Das macht neugierig.
Doch auch die Stuttgarter bieten mit ihrem langjährigen Chefdirigenten nur bekannte Opus-Kost: Die fünfte Sinfonie und die Nussknacker-Suite. Aber, das sei vorweggenommen, die Beschränkung auf viel gespieltes Repertoire ist die einzige Enttäuschung, die der Hörer hinnehmen muss.
Denn so musikantisch animiert, so wenig romantisch verbrämt, sondern vielmehr seelenvoll ausgedeutet, statt mit süßem Vibrato angedickt, hat man die Fünfte selten gehört. Doch nicht nur die sinfonische Oberfläche entstauben Norrington und das exzellente SWR-Orchester. Sie loten die ganze Tiefe dieses vielfach eher als großorchestrales Schaustück mit effektvollem Triumph-Schluss aufgefassten und aufgeführten Werkes aus.
Oft wurde über Tschaikowskys angebliche Todessehnsucht geschrieben und gestritten. Leicht kann daher das düstere Klarinettenmotiv des Beginns in dunkle Jenseitsahnungen abgleiten. Norrington bewahrt das für die ganze Sinfonie so bedeutungsvolle Thema jedoch vor jeder mörderischen Selbstzerfleischung. Er leistet Trauerarbeit am Abgrund des Nicht-Seins, wie es Tschaikowsky selbst ausgedrückt hatte, und ist damit der permanenten Todesfurcht des Komponisten ganz nahe gerückt, ohne dass sie freilich zum Hemmschuh jeglicher Entwicklung werden würde. Nur so kann sich der in der Sinfonie angelegte Umschwung aus dem Dunkel ins Licht ohne den sonst wahrnehmbaren Bruch manifestieren auch wenn freilich quälende Verwerfungen nicht unbeachtet bleiben. Die Präzision, mit der die Stuttgarter diese nach Glück sehnende Transformation mit einer stringenten Zwangsläufigkeit vollziehen, beeindruckt um so mehr, da es sich bei der Einspielung um einen Live-Mitschnitt von einem Konzert aus dem Jahr 2007 in der Liederhalle Stuttgart handelt.
Mit der Nussknacker-Suite geben das Radio-Sinfonieorchester und Norrington zudem mehr als eine nette, unbeschwerte Zugabe. Auch hier geht es nicht nur um arabische, chinesische oder russische Tänze. Mit zügigen Tempi wird das gesamte Gefühlsspektrum des Tschaikowsky-Balletts behände und leicht ausgeleuchtet.
Roger Norrington, der in diesem Jahr seinen 75. Geburtstag gefeiert hat, macht einmal mehr deutlich, dass Persönlichkeit und Gestaltungswille die alles entscheidenden Kriterien einer Interpretation sind und so auch bei Tschaikowsky noch für Neuentdeckungen im gängigen Repertoire sorgen können.
Christoph Ludewig