Tschaikowsky, Peter
Symphony No. 5/Hamlet Overture
Eigentlich hatte man ja angenommen, dass mit Tschaikowskys Seelen-Sinfonien keine Repertoire-Lücken mehr gefüllt werden können. Weit gefehlt. Der lettische Dirigent Andris Nelsons belehrt uns eines Besseren. Das City of Birminigham Symphony Orchestra hat in den knapp 90 Jahren seines Bestehens 18 Jahre davon, von 1980 bis 1998 unter Simon Rattle noch nie eines der großorchestralen Werke des oft tief verzweifelten und zweifelnden Melodien-Schöpfers eingespielt. Der seit 2008 am CBSO-Pult tätige Chefdirigent und Musikdirektor hat dies rasch geändert: Die fünfte Sinfonie und die Hamlet-Ouvertüre sind der Auftakt zum ersten Tschaikowsky-Zyklus aus Birmingham.
Natürlich muss die Frage gestellt werden: Rechtfertigen die Spitzenmusiker aus Mittelengland mit ihrer Interpretation auch das Aufgreifen des Vielgespielten? Die spontane Antwort heißt: ja. Denn so viel Hamlet-Lebenskampf war selten in der Fünften und so viel schicksalhafte Schwermut kaum in der Ouvertüre. Die Verquickung der beiden Werke ist sinnfällig nicht nur, da Tschaikowsky zu gleicher Zeit an ihnen gearbeitet hat, auch die grundlegende Auseinandersetzung ist in beiden musikalischen Psychogrammen gleich. Hier wie dort geht es um: Sein oder nicht sein.
Aber inmitten dieses emotionalen Zwiespalts gerät Nelsons und dem City of Birmingham Orchestra bei aller beeindruckender Ausdruckskraft das eine oder andere zu schwer, zu gedehnt, die ohnehin von Tschaikowsky stark akzentuierten Kontraste etwas zu gewollt. Fast scheinen die Klarinetten und Fagotte an der Traurigkeit und unendlichen Sehnsucht des Schicksalsmotivs zu ersticken. Wild und ungezügelt vollzieht sich demgegenüber der anschließende Ansturm der Orchestermassen. Die gedehnten Tempi der Andante-Sätze, der erregte Walzer und das stürmische Allegro vivace des Finales bergen die Gefahr, dass die Gemütstiefen der Fünften ins Bodenlose entgleiten. Aber immer dann, wenn sie im See von Plagen (Hamlet) zu entschwinden drohen, hält sie der gerade einmal 30-jährige Dirigent routiniert fest. Nein, die vollständige Beugung vor dem Geschick, wie sie Tschaikowsky in der Fünften vorgegeben sah, ist Nelsons Sache dann doch nicht. Triumphal gestaltet er den Sinfonienschluss, Widerstand leistet sein Hamlet eine Ouvertüre voller Entschlossenheit, mit schrillenden Beckenschlägen, pulsierenden Ausbrüchen der Geigen und mächtigen Aufschwüngen der Blechbläser. Doch alles verklingt in bitterer Trauer. Der Kreis ist geschlossen zum Schicksalsmotiv des Sinfonien-Kopfsatzes. Entschieden ist der Lebenskampf. Bei Shakespeares Hamlet ist der Rest Schweigen bei Nelsons Tschaikowsky ist der Rest Schwelgen.
Christoph Ludewig