Mahler, Gustav
Symphony No. 5 cis-Moll
An Einspielungen von Mahlers Sinfonien, und der Fünften zumal, mangelt es nicht. Und doch kommen gerade in den vergangenen Jahren immer wieder Neuaufnahmen heraus, ist der komplette Zyklus dieser neun (plus der fragmentarischen Zehnten) in Besetzung und Ausmaß gigantischen Werke in Angriff genommen oder abgeschlossen worden, etwa von Riccardo Chailly, Michael Tilson Thomas und Michael Gielen.
Einen der interessantesten Ansätze verfolgt Roger Norrington mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR. Seine auf dem genauen Studium der historischen Quellen fußenden Interpretationen haben so sehr an Akzeptanz gewonnen, dass Kritiker wie Publikum voller Respekt vom Stuttgart Sound sprechen. Über Gesamtaufnahmen des sinfonischen Schaffens von Beethoven und Brahms ist Norrington inzwischen bei Mahler angelangt. Nach Einspielungen der ersten (2004) und der vierten Sinfonie (2005) lässt sich der historisierende Stuttgart Sound nun an Mahlers Fünfter überprüfen. Es handelt sich um einen Mitschnitt aus dem Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle vom Januar 2006. Die Unmittelbarkeit des Konzerterlebnisses bleibt zumindest partiell erhalten.
Norrington lässt, wie es um 1900 Usus war, die ersten und zweiten Geigen einander gegenüber und die Kontrabässe hinter dem Holz sitzen. Vor allem aber verzichtet er auf das heute verbreitete Dauervibrato und kommt so Mahlers Wunsch nach Deutlichkeit und Durchhörbarkeit der einzelnen Stimmen nach. Statt mit bombastischen Klangorgien die Feinheiten zu übertünchen, macht der Originalklang-Pionier Norrington die Partitur transparent und erreicht eine wohltuende Prägnanz. Man achte nur auf das kontrapunktische Stimmengeflecht im Rondo-Finale, das zudem durch seinen dramatischen Spannungsaufbau beeindruckt. An den staunenswerten Stuttgartern hätte auch Mahler seine Freude gehabt, der sich für eine geplante Aufführung der Fünften das Orchester auch wirklich vortrefflich hauptsächlich 1. Horn, 1. Trompete wünschte.
Norrington ist mit den Klavierrollen vertraut, die Mahler im November 1905, also fast exakt ein Jahr nach der Kölner Uraufführung der Fünften, bei Welte-Mignon in Leipzig einspielte, darunter der Trauermarsch, für den er elf Minuten und 22 Sekunden benötigte. Der Brite hält sich sehr genau an dieses Tempovorbild und braucht gerade einmal elf Sekunden länger. Für den berühmtesten aller Mahler-Sätze überhaupt, das Adagietto, benötigt Norrington etwas weniger als neun Minuten, während Jonathan Nott (Bamberger Symphoniker) es auf elf, James Levine (Philadelphia Orchestra) auf zwölf und Haitink (Berliner Philharmoniker) auf knapp 14 Minuten bringt. Fern von Kitsch und tränenreichem Pathos nimmt Norrington das Adagietto nicht ausschließlich sehr langsam. Vielmehr beachtet er die Differenzierungen etwas flüssiger als zu Anfang, etwas drängend und fließender.
Norringtons historisierende Sichtweise auf die Partitur und deren bravouröse Umsetzung durch die Stuttgarter rechtfertigen diese Neuaufnahme allemal. Nicht nur Mahler-Enthusiasten sei sie ans Herz gelegt.
Jürgen Gräßer