Bruckner, Anton

Symphony No. 4

Rubrik: CDs
Verlag/Label: EMI Classics 0946 3 84723 2 2
erschienen in: das Orchester 11/2007 , Seite 90

Die Lorbeeren, die Sir Simon Rattle bislang für seine Bruckner-Aufnahmen zuteil wurden, dürften für einen Kranz kaum reichen. Wie auch? Der mittlerweile wohl bekannteste Dirigent Deutschlands, der in Berlin an jeder Döner-Bude erkannt wird, hat nur 1998 einmal die Siebente aufgenommen, damals noch mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra. „Ein Bruckner wie aus Granit“, kann man verschiedentlich in Rezensionen über diese Produktion lesen. Vielleicht lag es an solcherlei Kritik oder gar an Selbstzweifeln, dass Rattle sich bis jetzt mit der nächsten Einspielung Zeit gelassen hat. Erstaunlich ist das jedenfalls, wo die deutsche Romantik ihm nachweislich am Herzen liegt.
Doch das Warten hat sich gelohnt, denn nun liegt die Bruckner-CD-Premiere mit den Berliner Philharmonikern vor: die eingängige vierte Sinfonie, ein dankbarer Anfang, der für die Zukunft manches verspricht. Das liegt natürlich nicht zuletzt an dem Orchester selbst, das sich in diesem Zusammenschnitt mehrerer Konzerte in derart unglaublicher Perfektion präsentiert, dass einem der Atem stockt. Keine Spur einer Intonationstrübung findet sich da, kein Nachlassen der Präzision, kein solistischer Fauxpas, keine übersteuerten Blechbläser stören. Das Ergebnis stimmt, in der Einzelleistung wie in der Gesamtsumme. Nach Belieben können die Berliner Philharmoniker ihre Lautstärke hochfahren oder herunterziehen.
Simon Rattle selbst stellt die architektonische Form ins Zentrum seiner Interpretation, formt eine Klangkathedrale von opulenten Ausmaßen und bemüht sich um klassische Deutlichkeit – ist also vom Mischklang etwa Karajans weit entfernt. Und gewiss hat man diese Vierte schon leichtfüßiger gehört – doch spröde ist Rattles Bruckner auch nicht. Da tauchen wundervoll ausmusizierte Gesangsperioden auf, das Trio im dritten Satz geht er – mehr noch als andere – ohnehin sehr musikantisch an und fasst die vielen rhythmischen Charakterfiguren nicht als lärmendes Beiwerk auf.
Schon interessant, dass man sich ausgerechnet für einen Booklet-Text entschieden hat, dessen Autor Richard Osborne das Vorbild von Schuberts Sinfonien für die Vierte verneint und statt dessen auf Wagners „hypnotisierenden, aber möglicherweise unguten Einfluss“ abhebt. Dabei ist letzterer wohl – in musikalischer Sicht – geringer als allgemein angenommen: Man vergleiche die unterschiedliche Instrumentation und die verschiedenen Vorlieben für bestimmte musikalische Gattungen. Und schließlich war es Simon Rattle selbst, der einmal hervorhob, dass er von Günter Wand gelernt habe, „wie nahe sich Schubert und Bruckner stehen“. Auf den Beinamen „Romantische“ hat er für diese Produktion bewusst verzichtet.
Halten wir uns lieber an Höhepunkte dieser Aufnahme: vielleicht an den Schluss des Finalsatzes mit seiner knapp zwei Minuten langen, wohldosierten Steigerung, die sich in einer Es-Dur-Orgie entlädt. Oder an die feurige Gemessenheit des Jagd-Scherzos. Oder an die Pianissimi und Fortissimi eines Orchesters, das nach wie vor ein Phänomen ist.
Johannes Killyen