Schostakowitsch, Dmitri
Symphony No. 4 /Suite from the Opera “Lady Macbeth of Mtsensk”
Unter der Überschrift Chaos statt Musik erschien am 28. Januar 1936 in der sowjetischen Prawda eine Rezension von Dmitri Schostakowitschs Oper Lady Macbeth von Mzensk, die das Leben des Komponisten einschneidend verändern sollte. Die vernichtende Kritik führte zu einem sofortigen Aufführungsverbot der Oper. Zugleich bedeutete dieses Verdikt nicht nur eine Gefährdung der künstlerischen, sondern der physischen Existenz Schostakowitschs. Ganz konkret aber war es dem Komponisten unmöglich gemacht worden, seine zwischen 1935 und 1936 entstandene vierte Sinfonie zur Aufführung zu bringen. Es gab zwar noch eine Generalprobe der c-Moll-Sinfonie unter Fritz Stiedry, doch im durch den Prawda-Artikel erzeugten repressiven Klima blieb für diese Musik kein Raum.
Schostakowitsch hat sich mit der vierten Sinfonie, seiner bislang umfangreichsten, der musikalischen Welt Gustav Mahlers in bei ihm bislang nicht zu erlebender Form angenähert. Zugleich sind aber auch Parallelen zur grellen Tonsprache der Lady Macbeth nicht zu überhören. So ist es durchaus logisch, dass Andrey Boreyko seine Aufnahme der vierten Sinfonie mit der Einspielung der Suite aus der Oper Lady Macbeth von Mzensk op. 29a verbindet. Dabei handelt es sich hier nicht wie etwa die von James Conlon eingerichtete und aufgenommene Zusammenstellung um eine von fremder Hand, sondern um eine von Schostakowitsch selbst zusammengestellte, die aus den drei Zwischenspielen der Oper besteht. Um eine Weltersteinspielung, wie das Cover suggeriert, handelt es sich bei der Boreyko-Einspielung mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR dennoch nicht. Diese hat schon Thomas Sanderling mit der fulminant aufspielenden Russischen Philharmonie bei der Deutschen Grammophon (4776112) vorgelegt.
Boreyko hat mit dem Stuttgarter Orchester einen hervorragenden Partner für seine Sicht auf die monumentale Vierte zur Verfügung. Kraftvoll in den Streichern und den Anforderungen der Partitur gemäß schneidend im Blech, mit wuchtigen Schlagwerkattacken, nimmt sich der aus St. Petersburg stammende Dirigent der erst 1961 während der Tauwetterperiode der russischen Politik uraufgeführten c-Moll-Sinfonie an. Harsch lässt er scheinbar triviale Tanz- und Marschmotive aufeinanderprallen, Trauermarschartiges, Surreales wie scheinbarer Kitsch stehen in diesem für Riesenorchester gesetzten Werk fast unverbunden nebeneinander. Die beiden groß dimensionierten Ecksätze umfassen ein lakonisch knappes Intermezzo, das von Boreyko auch entsprechend aufgefasst wird. Der Chefdirigent sowohl der Hamburger Symphoniker als auch des Symphonieorchesters von Bern, seit 2005 erster ständiger Gastdirigent der Stuttgarter, ist kein Interpret, der die Abgründe der Musik übertünchen will. Kraftvoll stehen die heterogenen Elemente nebeneinander, Boreyko macht nicht den Versuch, eine Einheit herzustellen, wo die Zersplitterung zum Stilprinzip erhoben wurde. Eine ebenso kraftvolle, dynamisch ausgereizte wie klare Lesart der Musik Schostakowitschs, die in mehreren Konzerten in der Stuttgarter Liederhalle mit einem äußerst konzentriert agierenden Orchester mitgeschnitten wurde.
Walter Schneckenburger