Wolfgang Amadeus Mozart/Jan Václav Voříšek

Symphony No. 38 in D major, K. 504 „Prague“/Symphony in D major op. 23

Gewandhausorchester Leipzig, Ltg. Herbert Blomstedt

Rubrik: Rezension
Verlag/Label: accentus music ACC30574
erschienen in: das Orchester 6/2023 , Seite 68

Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester sind wie glücklich geschiedene Partner einer offenen Ehe. Sie leben eine erfüllte Beziehung, die durch Wiederholungen gewinnt und nicht abstumpft. Eine große Liebe! Zwischen Kurt Masur und Riccardo Chailly war der Schwede von 1998 bis 2005 Gewandhauskapellmeister. Seitdem kehrt er regelmäßig als Ehrendirigent an den Leipziger Augustusplatz zurück.
Das Publikum der Großen Concerte, wie die Sinfoniekonzerte im Gewandhaus genannt werden, hat Herbert Blomstedt ins Herz geschlossen, egal ob er die Große oder die Kleine C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert dirigiert, Letztere wieder zur Buchmesse 2023. Eigentlich ist dieses im September 2020 eingespielte D-Dur-Sinfonien-Doppel ein Nebenprodukt zur ebenfalls vor Kurzem veröffentlichten Gesamteinspielung der vier Sinfonien von Johannes Brahms mit Blomstedt und dem Gewandhausorchester.
Noch immer unterschätzt ist Jan Václav Voříšeks D-Dur-Sinfonie aus dem Jahr 1823, das legendäre Opus eines wie Schubert, Mozart und sein tschechischer Zeitgenosse Ryba früh verstorbenen Komponisten. Zum Beispiel wurde sie vom WDR Sinfonieorchester Köln mit Reinhard Goebel vor erst drei Jahren eingespielt. Für das Gewandhausorchester bedeutet Voříšek tatsächlich eine Alternative zur imponierenden und auch etwas monotonen Abfolge seiner Einspielungen von Brahms-, Bruckner- und Mendelssohn-Zyklen. Das Resultat kann sich bestens hören lassen. Der stellenreichste Klangkörper Deutschlands macht vergessen, dass er Voříšek und auch Mozarts D-Dur-Sinfonie mit ihren Figaro-Reminiszenzen und ihrem Giovanni-Vorglühen im Stil seiner romantischen Kernkompetenzen vorträgt.
Blomstedt und das Gewandhausorchester scheinen in einer Geheimsprache zu kommunizieren, die nur sie selbst verstehen. Diese ist das Mittel ihrer schier ewigen musikalischen Jugend. Der Glanz der Streicher wirkt so glatt und rund, dass man gar nicht auf das wahre Alter der Partituren kommen würde. Es ist eine hohe Kunst, so sehnig und gleichzeitig so weich zu klingen wie hier. Diese Einspielungen atmen den Geist der Mendelssohn-Zeit, allerdings mit Abgründen. Und ganz ohne generöse Milde. Blomstedt aber macht es dem Gewandhausorchester nicht zu schön. Er hat eine Lust am Skelettieren, Sezieren und Tranchieren. Das fällt kaum auf, weil die Tempi straff bleiben und die Strukturentdeckungen nicht in Zeitlupe präsentiert werden. Die romantischen Brillengläser Blomstedts haben einen Sprung. Das führt nicht zur Blindheit, sondern zu einem geschärften Sehvermögen und Werkerlebnissen, welche Wissenschaftlichkeit nicht auf dem Präsentierteller voraustragen. Das ist ernstzunehmende alte Schule, die man als solche nicht erkennt und welche ein fast zeitloses Glück verströmt.

Roland Dippel

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