Philip Glass
Symphony No. 12 „Lodger”
from lyrics by David Bowie and Brian Eno. Angélique Kidjo (Gesang), Christian Schmitt (Orgel), Filharmonie Brno, Ltg. Dennis Russell Davies
Erst im Alter von 55 Jahren begann Philip Glass, der weltweit bekannteste Vertreter der Minimal Music, Sinfonien zu komponieren. Inzwischen hat er seine Zwölfte fertiggestellt. Diese bezieht sich auf das letzte Album der sogenannten Berlin-Trilogie David Bowies Lodger (1979), in dem Bowie experimentell u.a. Weltmusik, Musique concrète und Rap einbezog. Die weiteren Alben dieser Triologie Low und Heroes bildeten die Reverenz für Glass’ 1. und 4. Sinfonie. Im Gegensatz zu diesen sind die Bezüge bei der 12. Sinfonie keine musikalischen, sondern nur textliche: Sechs geringfügig modifizierte Songtexte von Bowie (drei davon zusammen mit Brian Eno verfasst) hat Glass neu vertont. Ein siebenter Titel bildet das instrumentale Vorspiel.
Dirigent Dennis Russell Davies ist eng mit Glass verbunden. Er hat zehn Sinfonien von ihm uraufgeführt, die zwölfte sogar mit ihm gemeinsam überarbeitet. Und die aus dem westafrikanischen Benin stammende Sängerin Angélique Kidjo ist eine treffende Wahl als Gesangssolistin für diese Sinfonie, spiegelt sie doch mit ihren Projekten verschiedene Kulturen, z.B. mit ihrer 2018 erschienenen Reafrikanisierung des Albums Remain in Light der Talking Heads. Hinzu kommt Christian Schmitts Orgelspiel, das sich nahtlos in den Gesamtklang einfügt.
Philip Glass verwendet in seiner 12. Sinfonie stilistisch vertraute Mittel. So beginnt die instrumentale „Fantastic Voyage“ mit Kaskaden von Dreiklangsbrechungen in meist diatonischen Fortschreitungen, über denen sich variativ Bläserphrasen abwechseln. Die Texte komponiert er nahezu ohne Wortwiederholungen durch, und auch musikalisch werden Wiederholungen weitgehend ausgespart. Ausnahmen bilden hier eine refrainartige Zeile im Satz „Move On“ („Can’t forget you“), die aus einem Popsong stammen könnte, und die Aschanti-Worte in „African Night Flight“. Chromatische Fortgänge, Medianten, Ganztonleitern und Lamento-Bässe dominieren jetzt das harmonische Geschehen. Der Orgeleinsatz erinnert eher an eine Kinoorgel, zuweilen kommen Assoziationen an Marsch- und Filmmusik auf. Pattern-Strukturen werden im Lauf der Gesänge von illustrativen, durchkomponierten Teilen abgelöst. „Red Sails“ als langes Finale enthält eine Reprise der Einleitung.
Die Gesangslinien sind nicht selten nahezu rezitativisch, teils etwas sperrig. Kidjos tiefe Stimme wird in der Tiefe sehr gefordert. Dass eine Frau Texte singt, die Hedonismus aus männlicher Sicht feiern, ist ungewöhnlich.
In Glass’ 12. Sinfonie verschwinden alle Grenzen: die zwischen E und U, zwischen Stilen und Genres, zwischen Darbietungs- und funktionaler Musik. Das Werk ermöglicht einen ganz breiten Zugang bei unterschiedlichsten Vorerfahrungen und Hörgewohnheiten.
Christian Kuntze-Krakau