Schostakowitsch, Dmitri

Symphony No. 11

Rubrik: CDs
Verlag/Label: Musikproduktion Dabringhaus und Grimm, MDG 937 1209-6
erschienen in: das Orchester 07-08/2008 , Seite 69

Wer heute die 239. Neueinspielung einer oder sogar aller Beethoven-Symphonien vorlegt, hat ein Problem. Er und sein Klangkörper mögen noch so gut und überzeugend agieren: Es ist alles schon mal dagewesen, alles gesagt, was zu sagen war! Ähnlich verhält es sich mit Schumann, Brahms, Bruckner und anderen Symphonikern von Bedeutung.
Nicht so bei Schostakowitsch: Noch gibt es Spielräume, die in dieser Weise zuvor noch nie ausgeleuchtet und ausgedeutet wurden. Dabei kommt man heute an einem Namen nicht mehr vorbei: Roman Kofman. Jetzt lässt seine Exegese von Schostakowitschs 11. Symphonie aufhorchen, ihrerseits Bestandteil einer neuen Gesamteinspielung der Schostakowitsch-Symphonien mit dem Beethoven Orchester Bonn.
Das ist nun Programmmusik pur, insofern der Komponist ein Schlachtengemälde entwirft, wie es gegensätzlicher zu den – mit Verlaub – Machwerken Beethovens (Wellingtons Sieg) und Tschaikowskys (Ouvertüre 1812) nicht sein könnte. Es geht darin um den gescheiterten Volksaufstand gegen Zar Nikolaus II. im Jahr 1905, dem der Komponist nicht ein verherrlichendes, sondern ein tief bewegendes Memento gesetzt hat.
Der erste Satz („Platz vor dem Palast“) weist mit seiner frostig-kalten Ruhe vor dem Sturm bereits düster und unheilschwanger auf die folgenden tragischen Ereignisse hin. Eine Ruhe, die Kofman breit, beinahe genüsslich auswalzt: Sein erster Satz ist mit mehr als 17 Minuten Dauer der weitaus langsamste (zum Vergleich: Haitink 15’54”, Jansons 16’08”), was aber der Thematik durchaus adäquat ist; man könnte sich die ohnehin schon langen Akkorde sogar noch ausgedehnter vorstellen!
Der zweite Satz – es gibt übrigens keine Pausen zwischen den Sätzen – ist überschrieben mit „Der 9. Januar“. Menschen strömen auf dem Platz vor dem Palast zusammen, um friedlich zu demonstrieren, bis die Militärtrommel die trügerische Ruhe durchschneidet: Die unbewaffnete Bittprozession wird zusammengeschossen. Das Beethoven Orchester ist sich der Dramatik der Ereignisse bewusst und agiert mit einer Schärfe und Präzision, wie sie manch andere Ausdeutung dieser Symphonie vermissen lässt.
Im dritten Satz („In memoriam“) wird der Opfer des Blutsonntags gedacht, und dieses Gedenken gestaltet Kofmann mit besonderer Eindringlichkeit: Die Streicher folgen beileibe nicht nur den Noten, sie gehen dem Subtext auf den Grund, die Trauer wird greif- und nacherlebbar. Das Finale („Sturmgeläut“) schließlich erweist sich als eine Ansammlung von Wut, die sich in Revolutionsliedern verdichtet und zur politischenVeränderung aufruft.
Roman Kofman ist ein Perfektionist im Formalen, aber auch ein getreuer Diener dessen, was die Seele der Musik darstellt. Die vorliegende Einspielung ist ein Glücksfall und macht neugierig auf Kofmans Deutung des übrigen symphonischen Œuvres dieses so oft missdeuteten Komponisten.
Friedemann Kluge